Bauers Depeschen


Samstag, 02. Dezember 2017, 1880. Depesche



 



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MUSIK ZUM TAG



FLANEURSALON IM SCHLESINGER

Für den FLANEURSALON am Dienstag, 12. Dezember, im Schlesinger gibt es noch Karten an der Theke. Wird ein feierlicher Abend mit dem Sänger und Akkordeonvirtuosen Stefan Hiss und dem afrikanischen Duo Thabilé (Sängerin) & Steve Bimamisa (Gitarrist). Durch den Abend führt der Sprachkünstler Timo Brunke. Wer Lust hat, kann ab 18 Uhr essen im Schlesinger. Showbeginn 20 Uhr.



Die aktuelle StN-Kolumne:

GURKEN

Der Kapitalismus hat viele Dinge im Angebot, um die Menschen vom Kapitalismus abzu­lenken. Dazu gehört der Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt. Der Satiriker Thomas Gsella, den ich als liebenswerten Menschen kennengelernt habe, warnt vor dem Gesöff in seinem „Stern“-Gedicht zum Thema „Schlechte Erfindungen“: „Am Ende sind die Körper schwach / Und finden, ach, kein Ende: / Sie eiern durch die Reihen, ach, / Und reihern in die Stände.“

Ich bin gern auf dem internationalen Hauptumschlagplatz des Glühweins, schon aus Gründen der Dekadenz. Ich stelle mir vor, ich sei ein reicher Mann und könnte mit Bündeln von Scheinen eine Weihnachtsmarktbude nach der anderen plündern und alles mitnehmen, was ich nicht brauche. Zuerst und vor allem: Gurkenhobel.

Mich als Küchenniete fasziniert der Gurkenhobel, auch wenn er nicht mehr Gurkenhobel, sondern „Professional Gigant Multihobel“ und „Powerline“ heißt. Der Gurkenhobelverkäufer, dieser ehrenwerte Marktschreier, zählt für mich schon lange zur gehobenen Gattung des Entertainments, rhetorisch und charismatisch vielen Marktschreiern im Rathaus nebenan überlegen.

Mit tropfender Nase beobachte ich in einer Budengasse auf dem Marktplatz den Gurkenhobelprediger, er erinnert mich an den großen Politiker Cem Özdemir; neulich habe ich mitbekommen, wie er nach dem gescheiterten Jamaika-Feldzug mit künstlich gepresster, auf „rau & männlich“ getrimmter Stimme sinngemäß ins Parlament gerufen hat: Wer ist für Lametta – und wer für das Land?

Dieselben Anfangslaute in zwei Wörtern hintereinander, in Özdemirs Fall die politisch hochbrisante Kombination „La La“, kennen wir als Alliteration oder Stabreim. Als ich dem Marktschreier, umringt von Krautköpfen, gelben Rüben und grünen DDR-Bananen, zuhöre, brüllt er unter dem Beifall der Bevölkerung: „Wer ist für das Grundgesetz – und wer für den Gurkenhobel?“ Und dann klatschen wir begeistert und skandieren so laut wir können: „Hurra! Gurkengesetz!“

In Wahrheit hat dieser Vorfall nicht stattgefunden. So etwas machst du besser nicht auf dem Weihnachtsmarkt, bewacht von Polizisten mit nagelneuen Maschinenpistolen vom Typ MP 7 aus dem Hause Heckler & Koch und Amok-Ausstattung für Anti-Terroreinsätze: Spezialklamotten, 15 Kilo schwer. Darüber hat mich ein freundlicher Polizist aufgeklärt, und das ist das Erwärmende in unserer kleinen Gemeinde: Du plauderst mit deinem Schutzmann aus der Demo-Ecke, während die Rathausglocken „O Tannenbaum“ spielen.

Mitten im Weihnachtsgeschäft, einer LED-Sternstunde des Kapitalismus, erreicht uns eine Nachricht, die in den Wirren des ersten Schnees und des Jahresendkonsums schon bald verblassen wird. Rechtzeitig zur Auszahlung der letzten Weihnachtsgelder auf dem Arbeitsmarkt hat die Deutsche Bahn eine Meldung verbreitet, die so sensationell ist wie morgens die paar Eissterne auf den Geländewagenscheiben unserer feinbestaubten Alarmstadt: Stuttgart 21 wird – macht hoch die Tresortür! – wieder mal teurer. Und selbstverständlich später fertig. Diesmal betragen die sogenannten Mehrkosten 1 000 000 000 Euro, was reichen würde, den Weihnachtsmarkt auf Jahre hinaus leerzukaufen und die Menschen mit Glühwein abzufüllen. Auf dass sie nicht länger ruhen, sondern endlich mal richtig reihern.

Schon lange fällt es schwer, sich die Tragweite solcher Botschaften noch vorzustellen. Die Kosten des „Verkehrsprojekts“ – in Wahrheit dient es der Eroberung frei werdenden Grund und Bodens für Immobiliengeschäfte – belaufen sich inzwischen laut DB-Angaben auf 7 600 000 000 Euro. 1994, zu D-Mark-Zeiten, wurde Stuttgart 21 auf umgerechnet weniger als 2,5 Milliarden Euro veranschlagt und als „Geschenk“ an die Bürger verkauft. 15 Jahre später gab es großen Bürgerprotest, den die CDU-Landesregierung im September 2010 von einer Armee niederprügeln ließ, die nicht aus Schutzmännern von der Ecke bestand.

Den Protest gegen die unsinnigste Erfindung in der Eisenbahngeschichte allerdings gibt es bis heute. Zahlenmäßig geschrumpft, aber vom Spott Ahnungsloser unbeeindruckt, deckt er dank fleißiger Fachleute in seinen Reihen regelmäßig falsche Fakten auf, ehe sie von den S-21-Verantwortlichen scheibchenweise zugegeben werden.

Noch mal kurz zur Geldgeschichte. Im November 2011 veranstaltete die neu gewählte Grüne-SPD-Regierung eine landesweite Volksabstimmung, wie sie unfairer hätte kaum sein können. Abgestimmt wurde nur über die Akzeptanz des „Kostendeckels“, der – vorsätzlich falsch – mit 4,5 Milliarden angegeben wurde. Der damalige OB Schuster ließ vor dieser Wahl für zig­tausend Euro Porto einen Propagandabrief an hunderttausende Haushalte schicken. Keine zwei Monate vor der Abstimmung tönte die verkehrspolitische Sprecherin der Landtags-CDU, Nicole Razavi, auf ihrer Webseite: „Kosten bei Stuttgart 21 bleiben im Rahmen – wer was anderes behauptet, lügt!“ Kritikern attestierte sie „eine schamlose Politik des Spekulierens und Täuschens“ und „böswillige Unterstellungen“.

Heute erscheint es müßig, wieder und wieder die Lügen und Täuschungsmanöver der Planungsgurken von S 21 aufzulisten. Je astronomischer die Kosten, je unsicherer der Endtermin, desto weniger scheint dieses Größenwahnprojekt die Menschen zu interessieren. Die Summe, die in absehbarer Zeit im zweistelligen Milliardenbereich landen und weitere Steuern fressen dürfte, ist kaum noch nachvollziehbar: Wer soll begreifen, was 10 000 000 000 Euro im Alltagsleben der Stadt anrichten?

Und welcher Hohn, wenn die Verantwortlichen im Rathaus die verheerende Immobilienpolitik der Vergangenheit und die bedrohliche Wohnungsnot für Gering- und Normalverdiener jetzt in einem Atemzug mit dem S-21-Desaster nennen. Wie konnte man als Lösung für den Wohnungskonflikt ein von Anfang an unberechenbares Tunnelabenteuer ins Auge fassen?

Am S-21-Debakel haben weder Gipskeuper noch Kriechtiere schuld, sondern ein politischer Kontrollverlust, der nicht am Glühwein liegt. Wir erleben die Folgen des Machbarkeitwahns gestriger Manager und Politiker, die sich bei ihren Geschäften weniger um die Wahrheit scheren als jeder Gurkenhobelverkäufer.



 

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