Bauers Depeschen


Donnerstag, 10. August 2017, 1828. Depesche



 



FLANEURSALON mit ROLF MILLER

in UNTERTÜRKHEIM

Am 17. Oktober ist der Flaneursalon in Untertürkheim, an einem eher unbekannten Ort. Bei unserem Gastspiel in einem bizarren, zum Club ausgebauten Industriekeller machen der Halbsatz-Komiker Rolf Miller, das Folklore-Duo Loisach Marci und die Sängerin Anja Binder mit. Vorverkauf - auch telefonisch: EASY TICKET



Hört die Signale!

MUSIK ZUM TAG

(Glen Campbell +)



Die aktuelle StN-Kolumne:



DER GARTEN DES LEBENS

In der Stadt herumzuziehen garantiert nicht, sie gründlich kennenzulernen. Immerhin aber verdichtet sich unterwegs der Verdacht, jenseits von Dorotheenquartier, Müllaneo und ähnlichen Weltstadtzonen müsse es auch richtiges Leben geben. Und dann stehe ich, wie die Freunde des großen Kinos sagen, irgendwo da draußen: Haltestelle Tapachstraße, Linie 7. Weil ich nicht weiß, was „Tapach“ bedeutet, hole ich das Buch mit den Stuttgarter Straßennamen aus meinem Turnbeutel: Das Wort geht auf Tape (Pfote) zurück und bezeichnet einen Flur mit „tatzenförmig eingedrückter Vertiefung“.

Davon kann ich nichts sehen. Etwas ratlos stehe ich in der Haldenrainstraße in der Nähe der Tapachstraße in Rot, einem nach dem Krieg für Flüchtlinge erbauten Stadtteil des Bezirks Zuffenhausen. Vor mir kleine Läden und Imbissbuden. Ich muss in die Böckinger Straße zum Immanuel¬Grözinger-Haus: 13 Stockwerke hoch, Domizil für 144 obdachlose Männer.

Auf der Wiese vor dem 51 Jahre alten Hochhaus hat man eine liebevoll gestaltete, kreisförmige Gedenkstätte in den Rasen eingelassen. Auf kleinen Steintafeln stehen Namen und Daten verstorbener Männer aus dem Wohnheim. Die wenigsten von ihnen sind alt geworden. Sie kamen aus verschiedenen Milieus – einer hatte einen Doktortitel. Er wurde 57.

Viele der Männer im Heim sind alkoholabhängig, manche nehmen andere Drogen, einige sind inzwischen trocken oder clean. Das Immanuel-Grözinger-Haus gehört der Evangelischen Gesellschaft (Eva) – mir geläufig, weil in meinem Cap-Supermarkt am Hölderlinplatz eine Spendenbox für Eva hängt: Kunden werfen hier ihre Pfandbons für zurückgegebene Flaschen ein.

Das Immanuel-Grözinger-Haus in Rot am nördlichen Rand der Stadt ist für seine vorbildliche Arbeit bekannt. Erst Anfang des Jahres wurde es, unter dem Beifall der üblichen Halbprominenz, im Porsche-Museum mit dem Preis der Stuttgarter Bürgerstiftung ausgezeichnet. Die Einrichtung betreibt seit 2002 einen 1,2 Hektar großen Garten – entspricht etwas mehr als einem statt¬lichen Fußballfeld. Inzwischen ist das Projekt, ein weithin einzigartiges Modell für gesellschaftliche Integration, hochgefährdet: Die SWSG hat vor, den größten Teil des Gartens mit Wohnungen zu bebauen. Den Männer würde dadurch die Arbeit im Freien selbst dann für viele Jahre genommen, wenn die SWSG – wie versprochen – ein Ersatzgelände zur Verfügung stellt. Zu viel ist gewachsen in all den Jahren: im Erdboden, auf den Wiesen, im Bewusstsein der Menschen, im Zusammenleben der Männer mit der Nachbarschaft.

Unsereins kommt unangemeldet am späten Nachmittag in die Böckinger Straße; die Gartenarbeiter haben schon Feierabend. Zum Gelände, im Besitz der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BIMA), gehört das Café Tas. In der Bude treffe ich Markus Vordermeier. Er hat Landschaftsgärtner und Grafiker gelernt, ehe er zum sozialpädagogisch orientierten Arbeitsanleiter umschulte und 2009 in Rot einstieg. Der Name Tas, sagt er mir, steht für „tagesstrukturierende Beschäftigung“, eine Aufgabe, die auch einem Herumtreiber wie mir gelegentlich Kopfzerbrechen bereitet. Mit dem Namen Immanuel Grözinger wiederum erinnert Eva an einen Stuttgarter Pfarrer, der nach dem Zweiten Weltkrieg Obdachlose aus den Bunkern holte und ihnen ordentliche Bleiben und Arbeit an der frischen Luft verschaffte.

Jetzt droht wesentlichen Teilen des Sozialmodells Immanuel-Grözinger-Haus das Ende. Die Männer sollen das sanierungsbedürftige Hochhaus für immer verlassen und in neue Häuser in der Gegend umziehen, nicht weit vom Damm der sogenannten Schusterbahn von Untertürkheim nach Kornwestheim. Auf dieser Strecke (die volkstümliche Bezeichnung geht auf die Kornwestheimer Salamanderwerke zurück) fahren reichlich Güterzüge. Ihr Donnern vernehmen wir deutlich im weit entfernten Garten mit Aussicht auf Zazenhausen. In den Neubauten an den Schienen könnten die Männer nicht mehr die Fenster ihrer Einzimmerwohnungen öffnen; ein Unding nicht nur für Raucher.

Die städtische Baufirma SWSG plant 300 Wohnungen zu ihren – von einem kleinen Kontingent Sozialwohnungen abgesehen – üblichen, nicht für Normal- oder Kleinverdiener gemachten Mietpreisen. Etwa 100 Wohnungen sollen auf dem Gartengelände gebaut werden. In diesem Grün gibt es heute Hühner und Gänse, auch viele Bäume – Kinder aus der Nachbarschaft ernten das Obst und pressen Saft. Obst und Gemüse haben Bioqualität: Der einzige Dünger, den man sich leisten kann, kommt frei Haus aus einem Pferdestall vom Killesberg.

In dieser bunten Wohn- und Arbeitslandschaft haben viele der Männer eine Lebensaufgabe gefunden und erfahren, dass Arbeit Spaß machen kann. Nicht nur im Freien – auch in der Schreinerei, der Fahrradwerkstatt, in den Kursen für Fotografie und Computer. Der eine oder andere muss die Dinge des Lebens von Grund auf lernen – und erhält sein Taschengeld erst, nachdem er geduscht hat. So ist das eben.

Eine Bewertung der Lage ist kompliziert: Einerseits herrscht bei uns aufgrund der jahrelangen, nur an hohen Einkommen orientierten Immobilienpolitik eklatante Wohnungsnot mit explodierenden Mieten. Andererseits wäre es ein schlimmes politisches Signal, ein gewachsenes und funktionierendes Integrations- und Betreuungsmodell weitgehend zu zerstören.

Zurück zum Anfang meiner Zeilen: Nur scheinbar fuhr ich weit raus aus der Umgebung, die wir als Mittelpunkt der Stadt betrachten. In Wahrheit ist Rot nur einen Katzensprung von der Mitte entfernt – aber weit genug, um ignoriert zu werden. Die Männer im Immanuel-Grözinger-Haus stehen nicht etwa für ein Problem, das nur Rot betrifft oder gar in diesem Quartier entstanden ist. Da draußen geht es um ein Stuttgarter Projekt, das die sozialen Missstände der ganzen Stadt und deren Umgang mit Verlierern und Hilfsbedürftigen spiegelt. Die demokratischen Pflichten von Politik und Verwaltung reduzieren sich nicht auf die Schaffung von Konsumklötzen und städtebauliche Nischenkosmetik im Zentrum. Die Stadt gehört allen.



 

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