Bauers Depeschen


Dienstag, 25. Juli 2017, 1821. Depesche



 



MITTWOCH, 26. JULI: FÜR GERDA TARO

Kleiner Erinnerungsabend zum 80. Todestag der Stuttgarter Kriegsfotografin Gerda Taro. Gerda-Taro-Platz, 18 Uhr. Es sprechen die Taro-Biografin Irme Schaber, der Historiker Michael Uhl und unsereins. Musik zum Thema macht STEFAN HISS. Bei Regen im Theater am Olgaeck, Charlottenstraße 44.



Hört die Signale!

MUSIK ZUM TAG



Die aktuelle StN-Kolumne:



IM VATIKAN

Doch, ich war mal im Vatikan und habe keine guten Erinnerungen. Die Sixtinische Kapelle war dermaßen überfüllt, dass ich in einem klaustrophobischen Anfall so lange einen Wärter seiner Heiligkeit anflehte, bis er mich fluchend durch einen Notausgang entkommen ließ.

Am Sonntag war ich erneut im Vatikan, diesmal an einem Ort, von dessen Existenz ich lange nichts gewusst hatte. Bekanntlich führen alle Wege nach Cannstatt, darunter die Linie 1. Vorbei am Uff-Kirchhof, wo neben Gottlieb Daimler, dem Erfinder der Autoabgase, und Oscar Heiler, dem schwäbischen Komiker, auch der Freiheitsdichter Ferdinand Freiligrath begraben liegt. Am 18. März 1876 ist er im Alter von 65 Jahren im Alten Hasen gestorben. Speis und Trank im Wirtshaus waren vermutlich nicht schuld am Herzversagen des streitbaren Poeten. Den Alten Hasen in der Neckartalstraße gibt es bis heute und in Cannstatt auch eine Freiligrathstraße, an der die Linie 1 nach Fellbach vorbeirollt.

Diesmal war ich nicht auf Zufallstour. Herr Gerhard Zahn hatte mich zur Audienz in den Vatikan bestellt. Er ist 77 Jahre alt, verheiratet mit Elisabeth und seit sage und schreibe 60 Jahren in dieser Siedlung zu Hause. Wie viele meiner Gesprächspartner hat er mich zunächst gebeten, seinen Namen nicht in der Zeitung zu erwähnen. Das habe ich ihm ausgeredet, zumal er selbst mal bei den Stuttgarter Nachrichten gearbeitet hat, in den siebziger Jahren als Korrektor, damals noch in der Räpplenstraße. Herr Zahn ist geborener Cannstatter und gelernter Buchdrucker. Bis 2003 war er 16 Jahre lang war für die Hausdruckerei im Landesmuseum im Alten Schloss zuständig. Seit mehr als einem halben Jahrhundert ist er Gewerkschafter und Mitglied der Naturfreunde mit internationalen Kontakten. Mit seiner Frau erkundet er die Heimat, beide fotografieren leidenschaftlich gern. Von Ruhestand keine Spur.

Meine Art des Herumgehens ist ein eher defensiver Akt der Stadteroberung. Ich würde mir nicht herausnehmen, am helllichten Sonntag bei unschuldigen Leuten zu klingen und sie nach ihrem Leben zu fragen. Die Notizen meiner Spaziergänge sind als Anregungen gedacht, mal das Auto stehen zu lassen, per Bahn, per Fuß oder mit dem Rad loszuziehen und festzustellen, dass die Stadt eine Menge interessanter Dinge erzählt, die von der Politik und den Ämtern vergessen oder verdrängt wurden.

Heute schlage ich vor, zuerst das Nordbahnhofquartier zu besuchen, die alten Eisenbahnhäuser anzuschauen und dann weiterzuziehen in den Cannstatter Stadtteil Winterhalde, wo der Vatikan und Fellbach nicht weit sind. Die Ähnlichkeiten vieler alter Backsteinbauten hier wie dort machen uns deutlich, wie die Eisenbahn einst die Arbeiter- und Wohnkultur in der Stadt mit geprägt hat. Zwar ist der städtebauliche Einfluss der Bahn in unserem Talkessel auch heute deutlich zu spüren. Aber deren Immobilienpolitik ja eher dafür erdacht, gewachsene Kultur zu Gunsten von Glas- und Betonkästen zu zerstören.

Als Ausstieg für einen Besuch im Vatikan empfiehlt sich die Linie-1-Haltestelle Augsburger Platz. Vom Zentrum aus gesehen liegt die Winterhalde rechts. Geht man ein paar Minuten die Beuthener Straße entlang, vorbei an der evangelischen Andreäkirche, erreicht man die Ihmlingstraße: Beginn der Siedlung Vatikan. Auf einer Tafel im Viertel erfährt man das Wichtigste über seine Geschichte: „In den Hauptteilen ab 1905 im Jugendstil durch die Architekten Brude und Gruber erbaut. Weiterbau 1930–1932. Fertigstellung 1961. Frühes Beispiel für genossenschaftliches Wohnen“. Den Genossenschaften ging es damals darum, den Menschen „helle und gesunde“ Wohnungen zu verschaffen.

Im Vatikan lebten und leben, wie überall in der Winterhalde, vor allem Eisen- und Straßenbahner. „Der geläufige Namen“, heißt es auf der Erinnerungstafel weiter, „rührt von der Erbauungszeit ‚weit von der Stadt‘ und in sich geschlossenen Lage sowie der früher überwiegend katholischen Bewohner her.“ Der Volksmund sagt es uns präziser: Der Cannstatter Vatikan war früher erzkonservativ, also rabenschwarz – und am Ende der Welt. Nach der Monarchie befreiten sich Teile der Genossenschaftsbewegung von der Obrigkeitshörigkeit und nahmen die Ideen der organisierten Arbeiter und ihrer Gewerkschaften auf.

Heute wohnt im Vatikan eine bunte, internationale Gesellschaft zu noch erträglichen Mieten. In den Kulissen des Quartiers wähnt man sich auf den ersten Blick in einer architektonisch fast etwas aufgesetzt fröhlich wirkenden Welt: Die Häuser zwar kompromisslos lückenlos und blockweise aneinandergereiht. Mit ihren schönen Fassaden in grünen und braunen Farbtönen und ihren auffälligen Fachwerkelemente aber stehen sie da wie in einer Spielzeugstadt, kunterbunt, etwas wild und sehr menschlich. Überall kleine Gärten, Wäschestangen, grüne Oasen.

Eine Stunde lang gehe ich mit großen Augen durch die Siedlung zwischen Ihmlingstraße und Kienbachstraße, Winterhaldenstraße und Beuthener Straße. Nichts ist mehr wie früher, sagen die Zahns, aber die Gegend immer noch gut für ein gutes Leben. Eine gewisse Einsamkeit liegt über dem Quartier, was nicht nur an der Sonntagsruhe liegen kann. Generell wohl herrscht im Vatikan vergleichsweise andächtige Stille. Es ist nicht weit zu den Weinbergen. Andererseits aber auch nicht weit zur lauteren Stadt jenseits des Neckars: Den Gaskessel können wir vom Vatikan aus gut sehen. Ich bin nur ein Uneingeweihter, denke aber, es würde dem Gemeinschaftsgefühl und der spirituellen Energie im Vatikan nicht schaden, wieder mal wie früher ein ordentliches Fest steigen zu lassen.

Die Zahns erzählen von den Zeiten, als es noch Lebensmittelläden, Metzgereien und Wirtshäuser im Vatikan gab. Und Feste. Das ist Jahrzehnte her. An der Ecke Kienbach-/Ruhrstraße kommen wir an der letzten verbliebenen Kneipe vorbei, einem griechischen Lokal namens Eckhaus. Gegenüber ist ein kleiner Laden: „bei Natascha“, eine Mischung aus Kiosk und Lebensmittelgeschäft.

Heiliger Strohsack, die Vatikan-Kolumne ist schon zu Ende und vieles über das Leben noch offen. Nichts wie wieder hin.



 

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