Bauers Depeschen


Dienstag, 25. April 2017, 1782. Depesche



 



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Die aktuelle StN-Kolumne:



DER BOXER

Adi habe ich kennengelernt, als mich Boxkämpfe weit mehr interessierten als heute. Bis vor einigen Jahren – Adi war schon krank – habe ich ihn gelegentlich im Bohnenviertel getroffen, wenn er mit seinem Hund spazieren ging. Er hatte immer einen Hund, zeitweise auch mehrere. Sein letzter war ein Rhodesian Ridgeback namens Oskar.

Ende der neunziger Jahre waren wir oft zusammen joggen am Katzenbachsee bei Vaihingen, da lief noch der Mischling Aris neben uns her. An die Landschaft am See und den Trimm-dich-Pfad erinnerte ich mich, als ich die Nachricht erhielt: An diesem Donnerstag findet die Trauerfeier für Adam „Adi“ Massier in der Vaihinger Katzenbachstraße statt.

Vor mehr als acht Jahren war er bei einem Spaziergang vor seiner Wohnung im Bohnenviertel gestürzt und zunächst nicht mehr von allein auf die Beine gekommen. Der Notarzt sprach von einer „Erkältung“. Einige Zeit später diagnostizierten die Neurologen Parkinson. Adi war Boxer. Nach seiner Karriere als Amateur arbeitete er jahrelang ehrenamtlich als Trainer und war Boxern und Liebhabern des Sports ein guter Freund. Auf ihn war Verlass.

Noch als Vierzigjähriger trat er 1980 bei den württembergischen Meisterschaften an und wurde Vizemeister im Leichtgewicht; zuvor hatte er bereits den Titel gewonnen. Er stieg für den SV Prag in den Ring. Die Amateurboxer des legendären Vereins im Norden der Stadt hatten in den fünfziger Jahren den Althoffbau in der Neckarstraße gefüllt und sogar im Neckarstadion das Publikum begeistert. Wann immer von der ruhmreichen Vergangenheit des Stuttgarter Boxsports die Rede ist, spielt der SV Prag eine wichtige Rolle. 1899 gegründet, war er Heimat für die Arbeiter aus dem Post- und Eisenbahnerdörfle am Nordbahnhof.

Mit Adi haben Boxfreunde die Kapitel des Faustkampfs besprochen, die Geschichte vom schillernden Manager, Promoter und Sponsor Willi Knörzer, bekannt als „Radio-Knörzer“. Er residierte in der Königstraße, war Präsident des SV Prag und in den Fünfzigern auch Chef der Kickers. 1960 sprang er, völlig verschuldet, von der Friedensbrücke über der Autobahn zwischen Vaihingen und Eltingen in den Tod.

Adi Massier, 1940 in Rumänien geboren, kommt in den fünfziger Jahren nach Stuttgart. Mit dem Boxsport beginnt er in den Sechzigern. Er ist klein und untersetzt, ungeheuer schnell und schlagkräftig. Getroffen habe ich ihn erst als Trainer: einen einfühlsamen Mann, der mit Geduld und Verständnis auch unsereins dazu bringen konnte, die Schinderei im 3-Minuten-Takt des Boxsports zu akzeptieren. Damals kam es für mich weiß Gott nicht darauf an, als Mitvierziger mithilfe einiger Lektionen das Boxen zu erlernen. Nach ein paar Trainingseinheiten mit zermürbenden Sprungseil- und Sandsackerfahrungen, so der Plan, konnte man den Kampf der wahren Fighter etwas besser verstehen.

Dem Mythos Boxen war ich ja nicht erst durch Muhammad Ali, sondern zuvor schon als grünschnäbliger Bücherleser begegnet. Irgendeiner der Hemingways, Mailers oder Simenons hatte mich angefixt. Und wenn es nicht die Schriftsteller waren, dann eben später die vom Boxen und seinem schmutzigen Lorbeer infizierten Herren der Altstadt.

Auch Adi kannte das Milieu und trainierte unter anderem Profis im Gentlemen Club der damaligen Szenengröße Claus „Attila“ Parge an der Hauptstätter Straße. Aber er war viel zu sehr Sportsmann und Familienmensch, um Rotlichtrituale zu übernehmen. Nach seinen frühen Lehrjahren als Werkzeugmacher verdiente er bis zur Rente mit verschiedenen Jobs sein Geld, arbeitete unter anderem jahrelang in der Druckerei des Stuttgarter Pressehauses.

Dank Adi habe ich etwas über die korrekten Seiten des Boxens gelernt: wie gute Kämpfer auch im richtigen Leben die Regeln der Anständigkeit beachten und Verlierer respektieren. Diese Erkenntnis muss einen nicht dazu verführen, die miesen Dinge des Geschäfts zu romantisieren. Die große US-Schriftstellerin Joyce Carol Oates schreibt in ihrem Buch „Über Boxen“: „Boxen hat grundsätzlich nichts Spielerisches, nichts Helles, nichts Gefälliges an sich. In seinen intensivsten Momenten ist es ein so ungebrochenes und so machtvolles Bild des Lebens – seiner Schönheit, seiner Verletzlichkeit und Verzweiflung, seines unberechenbaren und oft selbstzerstörerischen Muts – , dass es das Leben selbst ist und kaum ein bloßer Sport.“

Auch wenn die heutigen Auswüchse und oft indiskutablen Leistungen im Boxgeschäft dieser literarisch-philosophischen Sicht nicht mehr gerecht werden, so bleibt doch die Hoffnung auf eine aufrichtige Haltung, die sich im sportlichen Kampf spiegelt. Und zum Glück bleiben ein paar Geschichten, die wir Zaungäste uns bis heute erzählen. Etwa von den großen Tagen der Hotelkämpfe in der Alten Reithalle bei der Liederhalle. In diesem historischen Bauwerk haben in den Neunzigern die Klitschko-Brüder unterm Kronleuchter geboxt; nie vergessen werde ich eine Szene vom Ende jenes Jahrzehnts: In einem der Vorkämpfe trat einer von Adis jungen Schützlingen an, der seinen ursprünglichen Namen Tihomir Puncic in den etwas klangvolleren Timmy Punch verwandelt hatte. Nach Runden lag der Cruisergewichtler bereits klar vorn, als ihn sein Gegner derart kompromisslos zu Boden schickte, dass er seine Zunge verschluckte. Zum Glück brachte der Ringarzt die Sache schnell wieder in Ordnung, ehe der doch etwas hart getroffene Timmy die besorgt um ihn herumstehenden Menschen im Ring ­verwundert fragte, wo sie denn plötzlich alle herkämen.

Adam „Adi“ Massier musste seine letzten zwei Jahre im Pflegeheim verbringen. Am Dienstag, 18. April, ist er im Alter von 76 Jahren gestorben. Er hinterlässt seine Frau Elke, vier Töchter und einen Sohn, bei dem der Ridgeback Oskar inzwischen eine neue Heimat gefunden hat.

Wir haben einen guten Mann verloren.



 

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