Bauers Depeschen


Dienstag, 24. Mai 2016, 1631. Depesche



 



TAGEBUCH

Ich sehe und höre es in der Straßenbahn. Österreich ist überall. Don't know what to do. Wir sind zu wenige. Zu viele Mitläufer.



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Die aktuelle StN-Kolumne:



DIE SAISON IST VORBEI

Die Tage im Mai fühlen sich an, als sei die Saison schon vorbei, ich kann nicht mal genau sagen, welche Saison. Mein jüngster Besuch im Bad Berg war nicht der letzte. Aber es ist die letzte Saison, in der ich so wie diesmal aus dem Wasser in die Morgensonne schaue. Nach diesem Sommer wird das Mineralbad für zwei Jahre geschlossen – und umgebaut.

Auch die reguläre Fußballsaison ist schon vorbei, damit die EM beginnen kann, und nach dem Abstieg der Kickers in die vierte Liga darf ich nicht hoffen, dass der Umbau des Vereins schon nach zwei Jahren beendet sein wird. Neulich habe ich den Manager des Vereins besucht, Herrn Zeyer. Wir unterhielten uns, wie man sich in einer Kneipe unterhält. Anfangs habe ich Stichworte in mein Notizbuch gekritzelt, den Stift aber bald weggelegt. Im Lauf unserer Plauderei habe ich ein wenig darüber gelernt, wie es in einem Verein zugeht. So kann ich die Dinge womöglich besser einschätzen, wenn ich in der Sauna darüber nachdenke. Nicht alles, worüber man plaudert, muss in der Zeitung stehen oder woanders Lärm machen. Auch der Fußball hat ein Recht auf die Kultur der Stille.

Nicht übertrieben ist die Behauptung, dass ich in zwei Jahren ungefähr hundertmal darauf verzichten muss, im Bad Berg zu schwimmen und zu schwitzen. Schwimmen und Schwitzen helfen beim Nachdenken über das Leben und die Gewissheit, dass jede Saison zu Ende geht. Zurzeit feiert alle Welt Shakespeare, er ist gerade in seiner 400. Saison, und da darf ich ihn auch mal für ein paar Zeitungszeilen missbrauchen: „Kein Weiser jammert über den Verlust, er sucht mit freud’gem Mut, ihn zu ersetzen.“

Ich bin kein Weiser, habe also das verdammte Recht zu jammern, und das werde ich noch tun, wenn ich den Verlust längst ersetzt habe. Es wird ein erregendes Gefühl sein, in der nächstbesten Sauna, einer viel besseren als der jetzigen im Bad Berg, darüber zu jammern, in der falschen zu sitzen, weil die Saison zu Ende isdt. Und ich werde laut jammern mit Blick auf das Schild an der Wand: „Bitte absolute Ruhe einhalten“.

Allein in Europa geschehen zurzeit so viele beängstigende Dinge, dass man mit den Saunagängen zum Nachdenken gar nicht mehr nachkommt. Wir schauen gerade nach Österreich, reißen die Klappe auf und sollten doch besser begreifen, dass auch bei uns die Hochsaison der Rechten und Faschisten läuft.

Neulich ging ich durchs frisch renovierte Gewerkschaftshaus, das seit Kurzem Willi-Bleicher-Haus heißt. An der Wand, zwischen Baumaterial, lehnte ein gemaltes Porträt des Widerstandskämpfers und Gewerkschafters Willi Bleicher. Darauf ist zu lesen: „Es reut mich jeder Tag, an dem ich keine Wunden schlug.“ Das hört sich nicht an, als habe dieser Mann je gejammert.

Aus Ostheim erreicht mich die Nachricht, die Flüchtlinge in der Turnhalle der Raichberg-Realschule könnten bald in Systembauten nach Sillenbuch umziehen. Der genaue Termin für die hundert Menschen aus Arabien steht noch nicht fest. Ich war öfter in der Turnhalle und habe ein paar Mal beim Deutschunterricht geholfen. Die Saison geht jetzt zu Ende, bevor irgend woanders eine neue beginnen wird. Man ist kein Wohltäter, wenn man etwas macht. Es gehört zum Leben in der Stadt: Du mischt dich unter Neuankömmlinge, bist neugierig, ob sie wirklich Fremde sind.

Im Foyer der Turnhalle hängt eine Kinderzeichnung; auf das Blatt Papier hat die kleine Künstlerin geschrieben: „geb uns unsere kindheit – geb uns friedenheit“.

Einmal ging ich mit Basir zum Einkaufen in den afghanischen Aryana-Markt in der nicht weit entfernten Hackstraße. Basir ist gelernter Koch aus Afghanistan und weiß, dass es in diesem Laden speziellen Reis in Fünf-Kilo-Säcken gibt. Wir holen Reis, Salat und Gemüse, besorgen auf dem Rückweg noch Hähnchenschlegel beim Gazi-Markt an der U-Bahnhaltestelle Leo-Vetter-Bad und spazieren zum selbstverwalteten Stadtteilzentrum Gasparitsch.

Der kleine Club, benannt nach dem  Ostheimer Antifaschisten Hans Gasparitsch, unterhält schöne Räume mit einer kleinen Küche; freundlicherweise hat man uns den Schlüssel überlassen. Basir kocht mit seinen Freunden ein Essen für fünfzehn Männer aus Arabien und einige Frauen, die zum Ostheimer Freundeskreis der Geflüchteten gehören. Das Essen schmeckt ausgezeichnet, wir haben reichlich Spaß und verstehen uns. Wir sprechen mit Händen und Füßen, im Zweifelsfall helfen ein paar Wörter Deutsch und Englisch. Löffel, spoon, Messer, knife, you know.

Einmal ist Ahmad verschwunden. Als ich ihn suche, sitzt er auf dem Sofa im Nebenraum und kritzelte etwas mit Bleistift auf ein Stück Papier. Ich frage, was er schreibt, und er sagt: „Gedicht“. Ich frage nicht weiter. Ahmad war früher Anwalt in Syrien.

Das kleine Stadtteilzentrum liegt gegenüber der Ostheimer Gaststätte Friedenau, Rotenbergstraße. Chef der Friedenau ist seit mehr als dreißig Jahren der Grieche Georg Chatzitheodoru, weithin bekannt als der Schorsch. Als wir kein Sieb für den Reis finden, weil man sich in fremden Küchen nicht so gut auskennt, leiht er uns ein stattliches Exemplar aus seiner Küche. Alles, was uns fehlt, können wir von ihm haben, sagt Schorsch, der Griechisch und – akzentfrei – Schwäbisch spricht.

Solche Ecken wie in Ostheim sind wohltuend in der Stadt: Es herrscht eine Courage, ein Wille zur Friedenheit. Du verlässt diesen Ort mit dem Gefühl: Wenn die Saison vorbei ist, fängt die nächste an, und du bist dabei mit freud’gem Mut.



 

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