Bauers Depeschen


Samstag, 19. Dezember 2015, 1567. Depesche



 



DER VORVERKAUF für den FLANEURSALON am Mittwoch, 20. Januar 2016, im Stuttgarter Stadtarchiv in Cannstatt hat begonnen. - Es spielen: Eric Gauthier & Jens-Peter Abele, Eva Leticia Padilla & Gabriel Holz, Roland Baisch & Frank Wekenmann.

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Die aktuelle StN-Kolumne:



KOMMANDO SCHULRANZEN

Es regnet, als ich über den Weihnachtsmarkt gehe, ich suche Unterschlupf. Schon zum wiederholten Mal in diesen Tagen schaue ich deshalb dem Gurkenhobel­Verkäufer zu, einem Rummelprofi, der den Leuten in Wahrheit keine Gurken-, sondern Multi-Hobel anpreist.

Marktschreier sind die Väter des Entertainments, bewundernswerte Komiker, weil es rhetorisch und darstellerisch wesentlich schwieriger ist, jemanden für einen Gurkenhobel auf dem Weihnachtsmarkt zu gewinnen als für eine Stimme bei der Landtagswahl. Der Gurkenhobel-Mann überzeugt mich mit dem Kernsatz seiner Gemüsehack-Performance: „Es kommt“, sagt er, „immer auf den Einsatz an.“ Mag er damit auch seine kleinen Zusatzscheiben zum Extrapreis meinen, die seinen Gurkenhobel erst zu einem Multi-Hobel voller magischer Kräfte machen, ein Philosoph ist er so oder so: Alles in diesem verdammten Leben, im Orchestergraben oder auf dem Fußballplatz, hängt vom richtigen Einsatz ab.

Wieder zu Hause, sehe ich mir auf Youtube Guido Wolfs Auftritt beim ­CDU-Parteitag an. Baden-Württembergs CDU-Spitzenkandidat bei der Landtagswahl versucht sich als wandelnder Multi-Hobel. Immer wenn er Zustimmung beim Publikum sucht, beendet er einen Absatz seiner Rede einfallsreich mit der weltpolitisch bahnbrechenden Forderung, nicht die Grün-Roten, sondern er und die Schwarzen müssten in Zukunft regieren. Und schon setzt – es kommt auf den Einsatz an – rauschender Beifall ein.

Weit mehr Aufmerksamkeit als mit einer lausigen Rede ohne Pointen, sprachlicher Brillanz oder gar Inhalten erzielt man ohnehin mit den emotionalen Krücken vom Rummelplatz: Unser CDU-Mann überreichte der Kanzlerin beim Parteitag ein Plüschtier vom Aussehen eines Wolfs (Canis lupus). Eine solche Schießbuden-Nummer löst mehr Mediengeheul aus als jeder rhetorischer Einsatz mit inhaltlicher Substanz.

Trotzdem glauben viele Leute, in der Parteienpolitik gehe es um „Argumente“. Einem handelsüblichen Politiker geht es immer nur darum, mit seiner Rede in regelmäßigen Abständen Beifall einzufahren. Und da stets Gleichgesinnte anwesend sind, reichen dazu ein paar Allerweltsphrasen, vorgetragen mit lauter, schlecht geschulter Stimme: „Ich liebe meine Heimat … Dafür kämpfen wir … liebe Freundinnen und Freunde!“

Es wäre sinnlos, mit Argumenten dagegenzuhalten, wenn ein schwäbelnder Plüsch-Wolf „Flüchtlingsströme zurückführen“ und damit sinngemäß den Neckar aufwärts fließen lassen will. Da geht man besser in eine Flüchtlingsunterkunft und schaut sich um. Tatsächlich war ich bei der Gurkenhobel-Vorstellung auf dem Weihnachtsmarkt, um mich etwas abzulenken, nachdem ich ein kleines Fest mit Kindern aus Syrien im Ostheimer SSB-Depot besucht hatte. Die rund 20 Kinder, zwischen sechs und 14 Jahre alt, sind mit ihren Familien seit einigen Wochen in der benachbarten Sporthalle der Raichberg-Realschule untergebracht. Eine der ehrenamtlichen Betreuerinnen zeigt mir Fotos von Bildern, die syrische Kinder gemalt haben. Auf einigen sind Boote und Schiffe zu sehen und Menschen im Wasser. Eigentlich bin ich nicht gekommen, um zu berichten. Will mich nur ein wenig umschauen. Natürlich könnte ich mithilfe eines Dolmetschers einen Text vorbereiten, vielleicht über das Schicksal eines Mädchens mit großen braunen Augen, das ich Selina nennen würde, um seinen richtigen Namen zu schützen. Aber das will ich nicht: Zum Glück war ich nie in einem Boot, wie es die Kinder gemalt haben, also habe ich dazu nichts zu sagen. Unser Plüsch-Wolf kennt sich mit traumatisierten Menschen aus Schleuserbooten wohl besser aus. Deshalb verlangt er einen „Integrationsführerschein“.

Die syrischen Kinder haben in den vergangenen Wochen in den Räumen des Depots etwas Deutsch gelernt, von Januar an werden die meisten von ihnen Grundschulen im Osten besuchen. Bei meinem Besuch feiern sie gerade den Abschluss ihres Deutschunterrichts, singen zusammen „Schneeflöckchen, Weißröckchen“. Die Betreuerinnen, mit denen ich plaudere, heißen Fatima, Maja und Sofia. Sie kommen aus Argentinien, Kroatien, Russland. Seit einiger Zeit bringen sie den Kindern Deutsch bei. Ein Deutscher steht daneben und schaut dumm aus der Wäsche, weil er den Text von „Schneeglöckchen, Weißröckchen“ nicht kennt. Dieser Deutsche bin ich, offensichtlich nicht genügend mit ­„deutscher Kultur“ geschult, von der Fremdenfeindliche so wenig wissen, dass sie gleich noch das Ende ihrer angeblich „deutschen Identität“ befürchten. Die Besorgten aber kann ich beruhigen: Nirgendwo werden die christlichen Werte des Abendlandes härter verteidigt als auf unserem Stuttgarter Glühweindorf.

Abschließend muss ich noch erzählen, warum ich jetzt doch ein wenig aus Ostheim berichtet habe: Wenn die syrischen Kinder im Januar zur Schule gehen, brauchen sie dringend Schulranzen. Vielleicht lassen sich da gewisse Schulranzen-Ströme ohne Rückführung in Bewegung setzen. An diesem Samstag um 15 Uhr findet in der Sporthalle der Raichberg-Realschule, in der Nähe des Ostendplatzes, eine Adventsfeier statt. Wäre schön, der eine oder die andere würde einen Ranzen spenden. Die Neugierigen unter uns finden bei solchen Begegnungen sicher auch gute Argumente dafür, warum es nichts Besonderes ist, gelassen und freundlich mit fremden Leuten umzugehen. Und im Vertrauen: Für uns Gurken kommt es immer auf den Einsatz an.



Die Stuttgarter Zeitung über mein Kolumnen-Buch:



KESSEL-HESSEL

UND DIE KOMAKÄUFER

Joe Bauer stiefelt durch Stuttgarts Geschichte und Gegenwart.

Von Julia Schröder



Wenn man die eigene Stadt lang genug anschaut, schaut sie ganz fremd zurück. Das ist der Augenblick des Kolumnisten. Joe Bauer, im langjährigen Dienst der „Stuttgarter Nachrichten“ zumeist fußläufig unterwegs im Kessel, auf den (Halb-)Höhen und bei Gelegenheit weit darüber hinaus, durchstreift das nur scheinbar allzu Bekannte mit der Leidenschaft des Archäologen, der unter den teils polierten, teils ganz schön abgerissenen Oberflächen Stadtgeschichte ausgräbt und wieder zum Teil der Gegenwart macht. „In Stiefeln durch Stuttgart“ heißt Bauers jüngste Sammlung von Kolumnen und anderen Depeschen, und in diesen Stiefeln bewegt er sich in den Fußstapfen etwa eines Franz Hessel, der vor bald hundert Jahren Ähnliches für Berlin unternahm.

Nun ist die Landeshauptstadt Stuttgart unserer Tage, wie Bauer sie erläuft und erkundet, mit Hessels Metropole im Aufbruch kaum zu verwechseln, aber beider Art, sich den Dingen und Menschen zu nähern, ist durchaus vergleichbar. Es geht übrigens tatsächlich darum, sich ihnen zu nähern, und nicht darum, mit dem, was man eh schon über sie wusste, die eigene Vorurteilsstruktur und die des Lesers zu möblieren. Wobei sich mancherlei zwischen Waldfriedhof, Wald­au und Waldhorn, Fritz Kuhns Amtsstube im Rathaus und den lederzähen Neuner-Bräunern, „Demo für alle“ und Stolpersteinverlegung die erfrischend zum Grimmigen neigende Spottlust des Stadtspaziergängers gefallen lassen muss. Das gilt nicht erst, seitdem dessen Blick auf Segnungen und Sünden der Stadtentwicklung sich in den S-21-Auseinandersetzungen nochmals geschärft hat.

Man liest da Sätze wie: „Wenn du mit Vollbart, Strampelhose und Stoffturnschuhen in einem weltstädtischen Eiscafé am Marienplatz vor der Zacke hockst, ist auf New Yorks Meatpacking District samt seiner Hochbahn geschissen.“ Das ist zum Teil sehr komisch, zum Teil erregend und manchmal herzzerreißend. Getragen aber ist all das, und das ist die Hauptsache, von leidenschaftlichem Interesse am Vorhandenen wie am Verschwundenen. Man könnte diese Prosa im oben zitierten Sinn als das Gegenteil von hip bezeichnen. Joe Bauer ist ein Mann mit Stil und Haltung – und, wie im Lauf der Zeit immer deutlicher wird, ein Mann mit einer Mission: Bürger, schaut auf eure Stadt!

Joe Bauer: "In Stiefeln durch Stuttgart. - Zwischen Komakäufern und Rebellen." Edition Tiamat, Berlin. 256 Seiten, 14 Euro.



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