Bauers Depeschen


Mittwoch, 21. Oktober 2015, 1540. Depesche

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LIED DES TAGES



LIEBE GÄSTE,

nach dem doch recht angenehmen Flaneursalon mit dreizehn Mitwirkenden im Theaterhaus machen wir es wieder eine Nummer kleiner: Am Dienstag, 15. Dezember, sind wir im Schlesinger. Es spielen und singen das Eva Leticia Padilla Duo und Eric Gauthier & Jens-Peter Abele. Durch den vorweihnatlichen Abend führt Michael Gaedt. Karten gibt es ab sofort direkt im Schlesinger .- Unsereins macht diese Woche Ferien, aber es gibt ja immer was zu tun: Neulich erst war ich als Gastreferent ("Lightning Talk") bei der Studenten-Aktion "Hack your City" am Fraunhofer-Institut in Stuttgart-Vaihingen; im Fachbereich Virtual Engineering ging es um die spielerische Annäherung an die Stadt - in meinem Fall als unverspielter Spaziergänger, was auf überraschend gutes Interesse stieß. An diesem Donnerstag nehme ich an der Fakultät für Architektur und Stadtplanung der Uni Stuttgart am Einführungskurs der Studierenden teil: Die "entwerfen und realisieren einzelne Räume" für angebliche Stuttgarter Charakterköpfe. Keine Ahnung, was mir da blüht. - Noch ein paar signierte Bücher von mir findet man in den paradiesischen Räumen des Stiefelladens Boots by Boots, Ecke Gerber-/Christophstraße. - Und hier noch ein Text zur Jahreszeit:



HERBST

Im Herbst, da fallen die Blätter. Und sie fallen, weil die meisten Laubbäume aus gesundheitlichen Gründen am liebsten splitternackt schlafen. Die Verhüllten, etwa die Tannen, laufen dagegen Gefahr, als Weihnachtsbäume zu enden. Großartig, wenn es jetzt wieder losgeht; „Die vierzehn Tage, dass ich nicht draußen war, ist es Herbst geworden“, schreibt der Dichter Klabund. „Knallgelbe Bäume stehen an den Wegen. Und andere ockerhell, wie Indianer. Sträucher blühen über und über violett oder brombeerblau oder ziegelrot. Die waldigen Berge liegen braun wie verrostete Ritterhelme im Lande."

Im Herbst steht der Totensonntag vor der Tür, da klagen die Menschen über Melancholie, Depression und den Lärm durchgeknallter Laubstaubsauger. In welcher anderen Saison aber können sie ockerhelle Indianer neben violetten Sträuchern sehen. Die erregendsten Wochen des Jahres beginnen, wenn der Harlekin als Zeremonienmeister die Bühne der vier Jahreszeiten betritt. Dieser unberechenbare Wanderer mit dem bunten Flickenkostüm.

Wer sich dem Herbst in Gedanken nähert und zu allem Übel auch noch versucht, sie ausdrücken, hat es nicht leicht, dem Kitsch zu entgehen. Es bräuchte einen guten Humor, wie ihn Robert Gernhardt hatte, als er mit Blick auf die Vergänglichkeit seinen „Natur-Blues“ dichtete: „Kaum atmest du wegen der Eichen auf / da gehen schon die ersten Kastanien drauf / Natur.“

Bis heute gibt es Menschen, die sich eine frisch gefallene Kastanie in die Tasche stecken und mit ihr noch herumlaufen, wenn sie längst verschnurzelt ist. Die Kastanie soll sie daran erinnern, dass es wieder einen Sommer gibt, auch wenn es eine Weile dauern wird.

Mag es an der Wahrnehmung des Autors liegen, der den Sommer seines Lebens überschritten hat, so ist es doch wahr: Zu keiner anderen Jahreszeit unterhalten sich die Menschen in den Straßenbahnen so angeregt und präzise über ansonsten vergessene Dinge wie die natürlichen Veränderungen der Stadt. Es ist keine Lüge, wenn ich erzähle, wie ich auf einer Fahrt am frühen Abend durch Stuttgart ein kleines Mädchen ihren Vater fragen höre: „Wenn es Herbst wird, müssen wir dann verwelken wie die Blumen?“ Und der Vater sagt mit unschlagbarer Logik: „Nein, wir werden viel trinken.“ Dann steigt ein Paar zu, und die Frau im letzten Waggon des Zugs schaut zum Rückfenster hinaus und sagt: „Schau, das Licht. Dieses Licht.“

Wenn sich die Abenddämmerung im Frühherbst über die Stadt legt und der Himmel klar ist, scheint das metallic getönte Licht von Bühnenscheinwerfern die urbane Kulisse auzuleuchten. Die Stadt flimmert wie in einem Film, sie wirkt restauriert, und als Soundtrack hört man Frank Sinatras „Autumn In New York“: Slums verwandeln sich in Prachtstraßen, die Dächer schimmern verheißungsvoll, und es ist Zeit für eine neue Liebe, sie ist wie eine Herbstzeitlose.

Sie sehen, verehrtes Publikum, bis hierher hat der Autor die zu erwartenden Scheußlichkeiten der dritten Jahreszeit ausgeblendet, alle Grautöne weggewischt, er ist hängen geblieben in einer ungewöhnlichen Periode, die wir als Altweibersommer und die Amerikaner als Indian Summer bezeichnen (vermutlich ohne je von Klabunds Indianerbäumen gehört zu haben).

Es war im Oktober 2011, als ein Herbst regierte, wie ich bis dahin keinen ähnlichen erlebt und wahrgenommen hatte. Infiziert, wohl bekifft vom Duft des feuchten Grases im Park, setzte ich mich an meinen Computer und tippte einen kleinen Text mit der Überschrift „Der Weltwunderherbst“. Kurz zuvor hatte ich ein paar Tage Ferien gemacht, in Brooklyn, und auch dort war der Indianersommer in der Stadt. Sie warf die Schatten, die wir von dem Maler Edward Hopper kennen, es war ein warmer, fast heißer Herbst, ein Spätsommerrausch wie aus dem Medizinmannkessel, und als ich mit T-Shirt und Sonnenhut durch die Parks und Straßen ging, schien das große New York nicht da zu sein. Ich sah kleine Häuser und Gärten, enge Straßen mit Bäumen, einen endlosen Park mit Wasser.

Der Begriff Altweibersommer steht zum Glück nicht mehr auf der schwarzen Liste politisch unkorrekter Wörter, seit das Landgericht Darmstadt 1989 entschieden hat, dass er „keinen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte älterer Damen“ darstellt. Er rührt wohl vom althochdeutschen „weiben“ her und hat mehr mit dem Knüpfen der Spinnweben zu tun als mit den Silberfäden, die man im Frühtau im Herbstgarten und im gedimmten Licht guter Bars in den Haaren schöner Frauen leuchten sieht.

Die Hälfte meiner Herbst-Ballade ist jetzt um, sie handelte von den Tagen, da der Sommer zu Ende geht und der Herbst sich noch im feuchten Schlaf windet. Bis hierher war es keine Ballade zu Ehren der herbstlichen Stille, der Besinnung, auch keine Hymne auf die eingefahrene Ernte. Der Truthahn soll warten, die Äpfel und die Kürbisse werden so oder so überwintern, und auf Halloween und das verdammte, viel zu frühe Weihnachtsgeschäft ist ohnehin gepfiffen. Bis hierher ging es um die Motive für ein lautes Lied, das wir auf den Herbst anstimmen sollten: einen Choral mit Orgel und Posaunen, mit Elektro-Bässen und wildem Specht-Getrommel.

Diese Art Musik klingt fröhlicher als die Aufputsch-Rhythmen der Bierzelt-Kapellen beim Stuttgarter Volksfest und beim Münchner Oktoberfest. Und noch haben wir es nicht gesungen, das Lied auf den Wein und die Willkür der Natur, die ihn uns beschert. „Kaum hast du entdeckt, welcher Wein dir schmeckt / da hat das auch deine Leber gecheckt / Natur“, trauert Gernhardt.

Der Harlekin, dieser irrlichternde Teufelskerl, hat viele Gesichter. Rainer Maria Rilke schreibt in seinem Gedicht „Der Schauende“: „Da geht der Sturm, ein Umgestalter, / geht durch den Wald und durch die Zeit, / und alles ist wie ohne Alter: / die Landschaft, wie ein Vers im Psalter, / ist Ernst und Wucht und Ewigkeit.“

So kommt er daher, der große, stürmische Umgestalter, der uns von der Ewigkeit mehr erzählt als der Frühling, dieser pubertäre Frischling mit seinem erotischen Drang, mehr als der Sommer mit seinem hedonistischen Getue, und mehr als der Winter, dieses kühle Kapitel einer kurzen Phase des Geduldhabens.

„Es ist eigentlich eine böse Zeit!“, schreibt Wilhelm Raabe in seiner November-Geschichte mit dem Titel „Dazu ist’s Herbst“: „Das Lachen ist teuer geworden in der Welt, Stirnrunzeln und Seufzen gar wohlfeil. Auf der Ferne liegen blutig die Donnerwolken des Krieges, und über die Nähe haben Krankheit, Hunger und Not ihren unheimlichen Schleier gelegt – es ist eine böse Zeit! Dazu ist’s Herbst, trauriger, melancholischer Herbst, und ein feiner, kalter Vorwinterregen rieselt schon wochenlang herab auf die große Stadt – es ist eine böse Zeit! Die Menschen haben lange Gesichter und schwere Herzen, und wenn sich zwei Bekannte begegnen, zucken sie die Achsel und eilen fast ohne Gruß aneinander vorbei.“

Immer wieder steht der Herbst als Bild für die Düsternis, für den Untergang, für den Krieg. „Es gibt nur noch Herbst auf der Welt“, notiert Klabund im Ersten Weltkrieg. Nie mehr werde er lachen können, wie ein Baum sei er vom „braunen Laub bedeckt“.

Für die Schlagzeilen-Dichter der Gegenwart gilt es bis heute als Glücksfall, eine sich anbahnende Unruhe, eine bevorstehende Gefahr der dritten Jahreszeit zuschreiben zu können. Dann „droht“ ein „heißer Herbst“. Aus unseren Breitengraden wissen wir nur allzu gut, wie ein solches Ereignis Geschichte machen kann. Der „Deutsche Herbst“ ist ein historischer Begriff. Die Ära der Republik, die er versinnbildlicht, wurde bis heute nicht restlos aufgearbeitet. Es war die Zeit vom September bis Oktober 1977, als RAF-Terroristen den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer und das Flugzeug Landshut entführten, es war in den Tagen, als sie Schleyer ermordeten, als die Gefangenen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in Stammheim ihr Leben ließen. Ein Jahr später kam der Episodenfilm „Deutschland im Herbst“ heraus, eine Gemeinschaftsarbeit von elf Regisseuren, darunter Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge, Volker Schlöndorff.

Meteorologisch beginnt der Herbst schon Ende August, und da beispielsweise im Jahr 2013 ausgerechnet der 22. September als offizieller Start im Kalender stand, hatte sich der Harlekin wohl einen Scherz erlaubt. An diesem Tag wirbelte die Politik in diesem Land wieder mal nur Staub auf. Es war Bundestagswahl, und wohin die gewählten Vögel ziehen, weiß der Wind. Bertolt Brecht schreibt in seinem Gedicht „Kalifornischer Herbst“: „Ich sah ein großes Herbstblatt, das der Wind / Die Straße lang trieb, und ich dachte: schwierig / Den künftigen Weg des Blattes auszurechnen.“

Die Blätter fallen, und der Vagabund macht dicke Backen. Er ist ein Lichtgenie, ein Laub-Frosch und ein Nebelwerfer. Der Herbst ist unser Bester.



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