Bauers Depeschen


Freitag, 02. Oktober 2015, 1531. Depesche



"In Stiefeln durch Stuttgart"

MEIN NEUES BUCH JETZT IM HANDEL



LIEBE GÄSTE,

mein neues Kolumnen-Buch "In Stiefeln durch Stuttgart - Zwischen Komakäufern und Rebellen" ist am Mittwoch ausgeliefert worden und jetzt im Buchhandel erhältlich. Edition Tiamat, Berlin, 252 Seiten, ca. 15 Euro. Die Einnahmen kommen nicht mir, sondern Klaus Bittermanns tapferer Verlegerarbeit zugute. Einige signierte Bücher gibt es bereits im Stiefelladen Boots by Boots, Gerberstraße 5 F.



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Die aktuelle StN-Kolumne:



MÄRCHENWALD

Als ich aus dem Wald komme, fühle ich mich wie erschlagen und habe den Verdacht, die Bäume hinter mir lachten. Viele der Riesen haben mehr als 200 Jahre auf dem Buckel, etliche sogar 600, und wer so lange auf Stuttgarter Gebiet herumsteht, braucht Humor. Zugesetzt hatte mir allerdings nicht der Wald, vielmehr diese Flut von Wissen über die Natur, die auf mich einprasselte. Mein Respekt vor den Bäumen ist seitdem gewachsen, zuvor hatte ich mir selten Gedanken gemacht über ihr Recht zu leben, zu wachsen und zu fallen, wie sie wollen.

Es ist ein sonniger September-Tag, als wir in den Wald gehen: Michael Seifert, der Revierförster, Dina, seine Schwarzwälder Schweißhündin, und Max, ein guter Bekannter, der essbare von giftigen Pilzen unterscheiden kann. Unsereins kann kaum Rehbock und Hirsch auseinanderhalten, auch wenn der Hirsch, wie wir am Ende unserer Tour am Wildgehege sehen, beim Sex ungleich härter rangeht als der Rehbock. Es ist Herbst und Brunftzeit.

Wir haben uns am Schattengrund im weiten Westen getroffen, beim Kreisverkehr, wo es nach Büsnau geht, nach Magstadt und womöglich ans Ende der Welt. Es gibt, das weiß jedes Kind, einen Märchenwald. Und es gibt, weit aufregender, den märchenhaften Stuttgarter Rotwildpark. In diesem Jahr ist er 200 Jahre alt geworden. 1815 ließ ihn König Friedrich I. anlegen. Bis zur sozialdemokratisch verratenen Novemberrevolution von 1918 durften die Bürger nur gegen Bares ausgewiesene Wege beschreiten.

Anscheinend prägt die Obrigkeit mein Bewusstsein bis heute: Bis zuletzt war ich der Meinung, ein Spaziergänger könne im Wald niemals die angelegten Wege verlassen, ohne vom Wildschütz erledigt zu werden. Förster Seifert klärt mich auf: Wir Bürger haben ein Waldbetretungsrecht, dürfen jederzeit ins Dickicht eindringen und uns mit den Bäumen verbrüdern. Es lebe die Revolution! Sie verschaffte uns freien Zugang zum Rotwildpark, einem Paradies. Der Rotwildpark, dem Bezirk Westen und seit 2001 dem nur ein Dutzend Einwohner zählenden Stadtteil Wildpark zugeordnet, ist seit 1939 Naturschutzgebiet.

Was für ein betörender Blick mitten im Wald auf die majestätischen Gesellen mit ihren mächtigen Ästen voller Laub im gebrochenen Licht. Wir sind weit weg von den aufgewühlten Waldrändern: In diesem Jahr treiben sich so viele Wildschweine herum wie schon lange nicht mehr, aggressive Muttersäue, die Bachen, erschrecken auch mal Spaziergänger.

Die berühmteste Wildpark-Adresse ist neben dem Bärensee, dem Mittleren See und dem Pfaffensee das Bärenschlössle, wo es die weltweit besten Kuchen und gute Mahlzeiten gibt, auch Wild, geschossen vor der Haustür. Auch deshalb wird der Rotwildpark bei gutem Wetter am Wochenende von 10 000 Leuten heimgesucht. Jogger, Wanderer, Radfahrer. Der Förster, ein kerniger Mann von 52 Jahren, sagt: „Wenn du morgen das Bärenschlössle schließt, ist der Protest gegen Stuttgart 21 ein Scheiß dagegen.“

Michael Seifert, seit 24 Jahren im Amt, öffnet mir einen neuen Horizont: In der Natur orientiert man sich nicht an der läppischen Größenordnung eines Menschen­lebens. Wenn es um das Wohl und Wehe des Baumes geht, denkt der Förster 100 oder 200 Jahre voraus. Dann geht es darum, einen Baum „freizuräumen“, ihm die Chance zu geben, nicht zum „Spargel“ zu degenerieren. Der Rotwildpark gilt weithin als einzigartiges Waldgebiet mit außergewöhnlich vielen alten und uralten Bäumen: Eichen, Buchen, Kastanien, Kiefern.

Welcher Stadtspaziergänger hat schon eine Ahnung, wie wichtig eine Buche für das Leben in der Natur auch dann noch ist, wenn sie schon als Totholz gilt. Warum es falsch wäre, sie zu fällen. Im Zustand ihrer Vergänglichkeit wandelt sie sich zum Habitat, zum Lebensraum von Käfern, Vögeln, Fledermäusen.

Der Förster, der auch reichlich gefälltes Holz für den Staat erwirtschaften muss, lebt im Dauerkonflikt: Wie kann er den Wald hegen, den Bäumen die Freiheit zum Wachsen und Sterben geben, ohne die Menschen auf ihrem Naherholungs-Trip zu verärgern? Und was wiegt schwerer: das Recht des Menschen oder das Recht des Baumes? Was ist ein vertretbares Interesse der Leute auf Natur? Sicher nicht die Forderung, nächtens Waldwege für Jogger mit Hirnlampen und in Wurstpellen-Kostümen zu beleuchten.

Besonders im vergangenen Sommer wurde der Förster zum Buhmann. Mit der großen Hitze wuchs die Gefahr im Wald: Alte Bäume fielen leichter als sonst, Äste stürzten herab. Das ungeübte Auge des Spaziergängers kann nicht erkennen, wo das Unglück lauert. So entschieden sich die Forstleute, Grillhäuschen mit Drahtgittern zu schließen, Sitzbänke abzubauen, Kinderspielplätze zu sperren. Das sind verdammt unpopuläre Schritte, für den Unbedarften leicht als Beamten-Kleingeist zu geißeln. In den Ämtern aber hat sich die Furcht vor der juristischen Schuldfrage bei Unfällen eingenistet wie der legendäre Juchtenkäfer oder sein Artgenosse namens Buchdrucker im Wirtsbaum. Ansonsten hat der heiße Sommer, sagt Seifert, dem Wald „nicht dramatisch“ geschadet. Es werde nur etwas weniger Baumsamen geben.

Ausgefallen ist in diesem Jahr die traditionelle Drückjagd, bei der mehr als 40 Schützen und einige Schützinnen mit ihren Hunden Rehe, Wildschweine und Füchse ins Visier nehmen. Diese Art Schonzeit aber hat nichts mit dem heißen Sommer, sondern mit einem Berufsverschleiß des Försters zu tun: Demnächst wird Michael Seifert eine neue Hüfte eingesetzt. Schon mal gute Besserung! Als Stadtspaziergänger muss ich zur Vorbeugung gegen Hirnverschleiß bald wieder auf betreute Wald-Tour.



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