Bauers Depeschen


Dienstag, 30. Juni 2015, 1484. Depesche



 



Und noch ein Aufruf!

FLANEURSALON AM FLUSS

Das Leben ist hart: Würden sich nur noch 25 der Leserinnen und Leser dieser Seite jeweils 2 Karten im Vorverkauf besorgen, wäre ich bis Samstag aus dem Gröbsten raus, der Rest ergibt sich: Am 4. Juli steigt der Flaneursalon am Fluss, unser Hafenpicknick am Neckarufer. Überdachtes, mit Theaterhaus-Stühlen ausgerüstetes Gelände. Ab 16 Uhr offener Grill, Show ab 18.45 Uhr. Die Bühne ist ein Eisenbahnwagen, und es machen gute Künstler mit bei herrlichem Sommerwetter, beim Sonnenuntergang am Wasser: die wunderbare Folk-Sängerin Ginger Redcliff, der berührende Chor rahmenlos & frei von der Vesperkirche, die junge Band The Tremolettes, das virtuose Ekkehard Rössle Duo, der Berliner Poet Wiglaf Droste, der Loser Joe Bauer.

INFOS UND VORVERKAUF: MUSIC CIRCUS - Kartentelefon: 07 11 / 22 11 05.

KLEINES EINSTIMMUNGS-VIDEO: HAFENPICKNICK



LIED DES TAGES



Die StN-Kolumne "Joe Bauer in der Stadt":



WO DIE TOTEN ERWACHEN

Die Menschenschlange vor dem Geldautomaten am Wilhelmsplatz war lang. Länger als vor einer Athener Bank und der ­Gelateria Old Bridge in der Bolzstraße. Ich nahm mir vor, anderntags den Hoppenlau-Friedhof zu besuchen.

Die Stadt hat sich unglaublich verändert in den vergangenen Jahrzehnten, heute wirkt sie im Sommer fast großstädtisch überfüllt. Vor dreißig Jahren noch erinnerte Stuttgart an eine geschlossene Anstalt, oft nur mit viel Mühe und guten Kontakten zu den heimischen Kneipenwirten zu knacken.

Am letzten Juni-Samstag des zurückkehrenden Sommers kam ich am Nachmittag aus dem Westen, wo die Leute in sechzig Hinterhöfen Flohmärkte abhielten, um sich näher zu kommen. Es gibt wunderschöne, verborgene Hinterhöfe in der Stadt: im atemraubend dicht besiedelten Westen mit seinen Parkplatz-Katastrophen sind es wahre Überlebensinseln. Nebenbei, am Hölderlinplatz, veranstalteten die Geschäftsleute ihr „Laden-Hopping“, eine Art Floh-Hüpfen mit Drinks & Speisen im totalitären Konsumstaat der Gegenwart.

Auf dem Kleinen Schlossplatz spielten Musiker, wie man sie nicht alle Tage erlebt. Mit einem Festival für den schräg tönenden und noch schräger kostümierten Künstler trat das Kunstmuseum gewissermaßen vor seine eigene Tür. Das war ein Genuss, zumal ja viele Leute, vor allem in der Politik, bis heute glauben, ein Museum sei ein Friedhof für antiquierte Dinge – und nicht ein überaus gegenwärtiger Ort zur Beleuchtung der Veränderungen des Lebens.

Vom Schlossplatz ins Leonhardsviertel, weiter zum von allen Stadtplanungsgeistern verlassenen Wilhelmsplatz, wo sich gegenüber die Cash-Kundschaft für etwas Bares die Beine in den Bauch stand. Auf dem Wilhelmsplatz hatte man ein Getränke-Auto in die Betonwüste gestellt, und schon ging es auf dem Gelände zu wie auf dem Straßenfest mit Bargeld-Betrieb im benachbarten Heusteigviertel, wo der Spaziergänger nur mithilfe einer Machete in gewohntem Tempo vorwärtskäme.

Die Event-Stadt hat zum Glück ihre kühlenden grünen Oasen, und so ging ich Tags darauf auf den Hoppenlau-Friedhof, zu Stuttgarts ältestem Gottesacker, der lange schon ein offener Park ist und ein Mahnmal des schändlichen Verfalls.

Oft schon bin ich zufällig in einem Gebeinsgarten gelandet, wie neulich auf dem Fangelsbach-Friedhof. An diesem Sonntag aber hatte ich mit gutem Grund die Hoppenlau angesteuert. Der Koch, Autor und Musikant Vincent Klink hat in seiner gleichnamigen Edition die Neuausgabe eines 1991 in der Reihe „Marbacher Magazine“ erschienenen Buchs herausgebracht, diesmal unter dem Titel „Die Gräber der Dichter auf dem Stuttgarter Hoppenlau-Friedhof“. Als Autoren des 420 Seiten starken, mit 68 Abbildungen geschmückten Werks (24 Euro) mit zahlreichen neu hinzugefügten Fakten zeichnen Waltraud und Friedrich Pfäfflin. Und in seinem Essay „Poesie auf Gräbern“ beschreibt Udo Dickenberger die Geschichte und die literarischen (oft nicht mehr lesbaren) Inschriften des Friedhofs. 1626 wurde er zur Pestzeit im Nordwesten der Stadt, nicht weit vom „Großen See“ (in der Nähe des heutigen Katharinen-Hospitals), angelegt: „Der zwischen der heutigen Rosenbergstraße, dem Holzgartenweg und dem Berliner Platz gelegene, mehr und mehr durch Hochbauten eingefriedete Begräbnisplatz lag im 18. Jahrhundert noch ein Stück vor der Stadt.“

Heute ist er ein zentrales Open-Air­-Museum, leider aber sind die meisten Zeugnisse der Geschichte der Umwelt­verschmutzung und kulturlosen Schläfern im Rathaus zum Opfer gefallen. Im vergangenen Jahr, nach vielen Protesten und Initiativen der Bürger, hat man mit der Restaurierung der Grabmale begonnen. Die Bauzäune erzählen davon.

Das neue Buch ist nicht nur ein wertvolles Verzeichnis mit den Biografien berühmter Dichter, Verleger und Künstler wie Wilhelm Hauff, Christian Friedrich Daniel Schubart, Johann Friedrich Cotta, Johann Heinrich Dannecker. Es ist eine poetische Schatztruhe: spannend wie ein Abenteuerroman.

Nehmen wir die Geschichte des Hoppenlau-Toten Ernst Eugen Freiherr von Hügel, württembergischer Kriegsminister von 1829 bis 1842. Vor der Schlacht von Waterloo sagte er voraus, wo Napoleon den britischen Herzog Wellington angreifen werde. „Der Erfolg Wellingtons gibt Hügel recht“, heißt es im Buch. „Wellingtons Sieg könnte auch der von Hügel genannt werden.“ Waterloo hat also ein Schwabe gewonnen. Der eine oder andere könnte sich fragen: Was hat ein Militärstratege unter den Dichtern zu suchen – hätte nicht Wilhelm Hauff zwei Jahre lang bei Hügel als Hauslehrer gewirkt (Hauffs Hoppenlau-Stätte ist bis heute halbwegs erhalten, seine Lyra allerdings hat man in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gestohlen).

Das Buch verfolgt Spuren, die sich zu einer großartigen Erzählung über Stuttgart zusammenfügen. Wer damit durch den Friedhof spaziert, trägt so etwas wie das Drehbuch eines historischen Roadmovies bei sich. Man gelangt von Station zu Station, von Episode zu Episode, sucht sich einen Rastplatz zwischen den Gräbern, liest vom Leben der Verstorbenen, erkennt Zusammenhänge, bis Bilder und Szenen, manchmal sogar Töne und Klänge aus der Stille des Ortes erwachsen. Es gilt der Satz, wonach man den Charakter einer Stadt am besten auf den Totenäckern begreift.

Bis in die 1870er Jahre hinein wurden auf dem Hoppenlau-Friedhof Tote begraben. Eduard Mörike, der fleißige Stadtläufer, der oft an diesem Ort verweilte , wurde nach seinem Tod am 4. Juni 1875 bereits auf dem neuen Pragfriedhof beerdigt.

Zum Abschluss besuche ich die Hoppenlau-Nische mit dem jüdischen Friedhof, angrenzend ans Hotel Maritim. An der Mauer, vor einem umgestürzten Grabstein, liegt eine „Bild“-Zeitung vom Vortag, umringt von leeren Wodka-Flaschen und Zigarettenschachteln. Fern des Partymülls sitzt eine junge Frau mit ihrem Baby auf einem Teppich zwischen den Gräbern. Es ist ein schöner Sommersonntag, und die Frau im Schatten liest ein Buch.



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