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Freitag, 01. April 2011, 702. Depesche



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Dieser Artikel ist diese Woche in den Stuttgarter Nachrichten erschienen, und so was kann man zur Not ja auch mal lesen:



WAS IST DAS FÜR

EIN TYP IN STAMMHEIM?

Die Bildschirmverstörung des Fernsehmanns Manfred Naegele



Manfred Naegele, bis 1999 Filmemacher, Moderator und Redaktionsleiter beim SDR, hat seine "Südfunkgeschichten" als Buch veröffentlicht. Ein Stück Mediengeschichte.

Von Joe Bauer

Schuld war eine arme Bio-Sau. Als der Jura-Student Walter Sucher 1969 $für seine Geburtstagsparty auf einer Tübinger Wiese das Spanferkel Maria grillt, hat er neben Kommilitonen auch einen Kleinbus voll TV-Redakteure der Stuttgarter "Abendschau" geladen. Sucher arbeitet nebenbei als Kabelträger beim Süddeutschen Rundfunk (SDR). Unter den Partygästen ist auch sein Studienfreund Manfred Naegele, Jahrgang 1939. Der bereitet sich gerade auf seine Referendarzeit in Stuttgart vor.

Neben Schweinefleisch werden im Geiste der Freundschaft spirituelle Getränke gereicht. Die beflügeln Ulrich Kienzle, den damaligen Chef der "Abendschau", Naegele beim Abschied lallend aufzufordern, mal bei ihm in Stuttgart vorbeizuschauen. Der angehende Jurist hat an diesem Abend wohl noch nicht genug intus, um die Sache zu vergessen, und so kommt es, dass er die nächsten 30 Jahre beim SDR hängen bleibt.

Bis 1999, dem Jahr der Fusion von SDR und SWF zum SWR, arbeitete Manfred Naegele als Reporter und Filmemacher, Moderator und Leiter der Redaktion Kultur und Gesellschaft beim Stuttgarter "Sender" (Hausjargon). Der hagere Mann mit der lichten Mähne war ein Markenzeichen der Anstalt.

Jetzt hat er seine "Südfunkgeschichten" in dem Buch "Bildschirmverstörung" zusammengefasst. Schon das Umschlagfoto zeigt, was dem Hobby-Maler beim Schreiben vorschwebte: das Zeitgemälde über eine Ära, in der Staatsfernsehen nicht nur monopolistisch, sondern auch originell und wichtig war. Auf dem Cover sieht man einen Hippie mit schulterlangen Haaren, Oberlippenbürste und Koteletten, die jeden Luden der Siebziger neidisch gemacht hätten. Die Augen des Mannes auf dem Foto sind schmal und die Ringe darunter dunkel, als hätte er viele Nächte um Maria geweint.

Dieses Outfit garantiert Naegele seinerzeit nicht nur die Blicke der Damen. Als er 1975, mit juristischem Staatsexamen und 68er-Erfahrung für den RAF-Prozess in Stammheim bestens qualifiziert, erstmals einen Beitrag für die "Tagesschau" der ARD liefern muss, erkennen die Hamburger Kollegen Parallelen zum heimischen Kiez: "Was habt ihr denn da für einen Typen in Stammheim vor die Kamera gelassen, der sah aus wie ein Zuhälter im Rotlichtviertel und schwäbelte auch noch in seinem Statement, so etwas wollen wir bitte schön in einem seriösen journalistischen Beitrag nicht mehr sehen, danke."

In Wahrheit war der spätere Jaguar-Fahrer Naegele auf dem Bildschirm der Siebziger eine Augenweide. Passend zur Hardrock-Matte trug er knöchellangen Wolfspelzmantel und Schuhe mit Plateausohlen. Unter dieser modischen Uniform verbarg sich ein gewitzter Schöngeist, der schon in den Anfängen seiner TV-Karriere ein altes Entertainer-Gesetz befolgte: Er war sich für nichts zu schade.

Während er noch als Gerichtsreferendar Kleinganoven verknackt, provoziert er das "Abendschau"-Publikum bereits mit "Naegeles Hitparade". Als habe er die Zukunft des Pop-Videos gesehen, erweckt er deutsche Schlager mit rhythmisch montierten Bildern zum Leben. Er schrottet, eine Schaffnermütze auf dem Kopf, Märklin-Modelle für Christian Anders' Kultsong "Es fährt ein Zug nach nirgendwo" und zerhackt, Gummistiefel an den Füßen, Gartenzwerge für Reinhard Meys Chanson "Annabelle". Danach protestieren zwar die Hüter deutscher Kultur. Die Freunde guten Geschmacks aber feixen.

Naegele erzählt seine Anekdoten mit schelmischem, elegantem Unterton. Das ist präzise Unterhaltung voller Zeitgeschichte. In seinen Bildschirm-Memoiren spart er nicht mit prominenten Namen. Er schildert private Begegnungen mit Dichtern wie Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch, erzählt von Treffen mit Superstars wie Andy Warhol und Mario Adorf, mit Außenseitern wie der Hure Domenica und dem James-Dean-Chauffeur Rolf Wüterich. Seine Anekdoten aber klingen nie nach Tratsch, auch nicht, wenn er dem Leser den Grund für einen morgendlichen Arbeitsausfall seines Chefs verrät: Kollege Kienzle litt, nach dem Genuss einer Haschisch-Torte, so sehr an einer Dauererektion, dass bei der Therapie sogar die Ehefrau versagte.

Naegeles Notizen verdichten sich zu einer Hommage an eine Zeit, als man Fernsehfilme mit Herzblut und Tesafilm machte. Als Journalisten der Kampf um die Pressefreiheit wichtiger erschien als das Schielen auf Resonanz. Die Einschaltquote hatte man noch nicht erfunden, und Privatfernsehen war Kirmes.

Es finden sich auch berührende Szenen in Naegeles Erinnerungen, etwa in dem Kapitel "Hand an sich legen" über eine Begegnung mit Jean Améry, dem Autor des gleichnamigen Buchs. "Seine These vom Tod als einer letzten Freiheit hat mich sehr bewegt", schreibt Naegele und berichtet von einem Telefonanruf kurz nach der Sendung: Eine Mutter schildert, wie sich ihr Sohn zwei Tage zuvor das Leben genommen hat, neben dem Toten lag Amérys Buch.

Man muss kein Insider sein, um sich auf Naegeles Fernsehbiografie einzulassen. Im Gegenteil. Angesichts der herrschenden Medienmacht ist der Blick in die Vergangenheit auch für jene lehrreich und lustig, die glauben, Fernsehen sei am Computer erfunden worden. Und wenn Manfred Naegele an große Dokumentarfilmer wie Roman Brockmann oder gar Werner Herzog erinnert, ahnt man, dass die Bio-Sau Maria damals mehr bewegt hat als jeder Quoten-Affe heute in den Zoo-Dokus des SWR.

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