Bauers Depeschen


Dienstag, 28. Dezember 2010, 645. Depesche



DER FLANEURSALON ...

... macht eigentlich Pause bis zum 16. März (Friedenau, Ostheim). Oder sollen wir noch schnell einen Februar-Termin im Schlesinger einlegen? Oder doch lieber was Kleines in der Uhu-Bar? Wenn man's wüsste...



Die aktuelle Stuttgarter-Nachrichten-Kolumne:



ES IST VORBEI

Die letzte Woche des Jahres hat begonnen, die Woche, in der die Leute versprechen, die Dinge zu ändern. Das wäre ein ehrbares Unternehmen, würden die Leute nicht einer ähnlichen Arbeit nachgehen wie ich, nämlich lügen wie gedruckt.

Der Schriftsteller Jörg Fauser hat einmal geschrieben: „Als alles vorbei war, ging alles weiter.“ Dieser Satz ist ihm beim nachdenken über die Nazis eingefallen. Der Schriftsteller ist inzwischen tot, eines Tages lief er auf der Autobahn gegen einen Lastwagen, und was er über das Vorbei und Weiter geschrieben hat, gilt heute auch für andere Sachen.

Wenn ich mich richtig erinnere, hat das Jahr 2010 mit einem harten Winter begonnen; der Winter ging lange und war mir eine Lehre. Kaum war alles vorbei, ging alles weiter und erst richtig los. Auch der Schnee kam wieder. Er bringt alles durcheinander. Die Auto- und die Straßenbahnfahrer, die klammen Streudienste der Stadt und den großen Grube, den Chef der Deutschen Schönwetterbahn.

In einem Winter wie diesem ist es aufregender als zu jeder anderen Jahreszeit, mit der Straßenbahn durch die Gegend zu fahren. Wenn die Straßen, die Häuser, die Bäume zugeschneit sind, kommt man sich beim Blick aus dem Fenster vor wie in einer fremden, nie zuvor gesehenen Stadt. Alles hat sich verändert.

Gegenüber dem Möhringer Bahnhof, am Bürgerhaus, qualmt ein spindeldürrer Schornstein aus Metall. So etwas fällt mir nur in einem Winter wie diesem auf. Wenn früher die Schornsteine rauchten, war das angeblich ein gutes Zeichen. Man sagte: Es geht aufwärts. Heute stehen die meisten langen Kerle aus Backstein herum wie Denkmäler des Industriezeitalters, und man ist froh, wenn sie nicht rauchen.

Zum Jahresende haben sich einige andere vorgenommen, nicht mehr zu rauchen, auch wenn sie weniger stolz herumstehen als aufrechte Schornsteine. Vom Nichtrauchen wird die Welt nicht besser. Wenn ich im Winter einen Raucher oder eine Raucherin sehe, an einer Haltestelle oder vor der Haustür, ist das ein Zeichen der Hoffnung. Womöglich wird sich nicht alles ändern, was nicht wichtig ist, wenn sich schon nicht die Dinge ändern, die man ändern müsste, bevor alles vorbei ist.

Eine Fahrt durch die verschneite Stadt und ihre eingemeindeten Dörfer ist auch aufregend, weil alle, die im Waggon sind und hereinkommen, eigenartig aussehen. Nicht weil sie aus fernen Ländern wären (das sind sie auch im Sommer) – sie haben sich ein- und weggepackt, als müssten sie im alten Jahr noch schnell zum Nordpol oder für die olympischen Winterspiele trainieren. Manche tragen Handschuhe, als hätten sie vor, eine Bank zu überfallen. Dabei gibt es heute weniger anständige Banken als seriöse Raucherkneipen.

Ich rauche nicht mehr, es hätte deshalb wenig Aussicht, mir einen Raucherlungenhusten zum Jahresende zu wünschen. Vor einigen Jahren bin ich sogar ins gebremste Waldlaufgeschäft eingestiegen und habe etwa einhundert Tonnen Nikotin und Teer in die unschuldige Natur gehustet. Sie hat es überlebt wie das Waldsterben.

Über die freien Tage war ich mit meiner Zugmaschine, ich nenne sie Serben-Eddy, wie immer zum Husten im Dachswald unterwegs. Einmal war die Seufzerallee nach Vaihingen hinauf so zugeschneit, dass ich meine Zugmaschine am liebsten mit Gewalt außer Betrieb gesetzt hätte. Aber man soll keinen Serben umbringen, kurz vor Jahresende, das passt nicht zu dem Plan, ein besserer oder weniger schlechter Mensch zu werden.

Man wird kein besserer Mensch, wenn man seine Gelenke ruiniert, weil man glaubt, man könne dem Alter und dem Tod davonlaufen. Die Frage ist doch, warum es der große Herr Grube nicht schafft, an Weihnachten einen Intercity oder eine Draisine auf den Schienen von Berlin nach Hannover in Gang zu bringen, wenn es einem Menschen mit Nike-Latschen an den Füßen und etwas Wut im Bauch gelingt, die verschneite Seufzerallee hochzukommen.

Unterwegs, als ich Serben-Eddy in Gedanken schon erledigt und unterm Schnee begraben hatte, überlegte ich mir, ob es die polnischen Leiharbeiter vom Stuttgarter Weihnachtsmarkt noch rechtzeitig in ihre Heimat schaffen würden. Viele der Polen, hatte mir eine Geschäftsfrau am Heiligen Abend erzählt, fuhren mit dem Bus nach Hause. Bei gutem Wetter brauchen sie zwanzig Stunden. Ich drückte ihnen die Daumen. Sie hatten Angst zu fliegen, und die Bahn kannst du vergessen.

Die letzte Woche des Jahres hat begonnen. Es ist die letzte Woche der ersten Dekade dieses Jahrtausends, und wir müssen genau hinsehen, wie sie die Dinge ändern, um vorwärts zu kommen, ohne dass wir auf der Strecke bleiben.

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