Bauers Depeschen


Donnerstag, 25. November 2010, 626. Depesche



Matinee im Maulwurf

FLANEURSALON MIT ZAM HELGA

Weil Stefan Hiss wegen Terminproblemen absagen musste, begrüßen wir erstmals Zam Helga im Flaneursalon: Der Sänger und Gitarrist bereitet zurzeit seine Wiederkehr auf die Bühne vor. Am Sonntag, 19. Dezember, machen Zam, Dacia Bridges und ich eine Matinee in der Kneipe Maulwurf. Schöne Frühschicht-Atmosphäre. Stuttgart-Vaihingen, Möhringer Landstraße 9. Beginn: 11 Uhr. Telefon: 07 11 / 6 73 24 06. Reservierungen ab sofort.



Die heutige StN-Kolumne:

TUNNELSCHAL



Die Deutschen, die Österreicher und die Schweizer, habe ich gelesen, sind extrem wetterfühlig, viel anfälliger als etwa die Franzosen. Ich habe immer gesagt, dass die liebevolle Hinwendung zum Frosch und zur Schnecke hart macht, und ich kann das beurteilen, ich bin wetterfühlig.

Es ist sehr kühl geworden in der Stadt, das Hamburger „Manager Magazin“ schreibt, zurzeit liege „eine gespenstische Stille über der City“. Scharfe Beobachtung. Endlich hat jemand die City von Stuttgart entdeckt. Unsereins weiß bis heute nicht, wo er sie finden soll. Beim Blick von außen aber hat man sich wohl auf den Bahnhof und seinen Park geeinigt.

Früher hatte ich die City am Schlossplatz vermutet. Aber es stimmt: Nomadenzelte, wie sie normalerweise die Zentren von Metropolen prägen, stehen am Schlossplatz nur für wenige Tage im Sommer, und das auch nur wegen der Schnecken.

Als ich jung war, habe ich das Leonhardsviertel für die wahre City gehalten. Davon bin ich im Lauf der Jahre etwas abgerückt. Wenn im Viertel heute noch eins der monumentalen Zelte am Straßenrand in der Kälte steht, beginnt es zu sprechen: „Hast du Zeit, Schatzi?“

Inzwischen habe ich für die Wintertage sonnigere Wege gefunden, um von der ausgekühlten Old City in die hitzigen Feuchtgebiete der Reststadt vorzudringen. Beim Brunnenwirt runter in die U-Bahn-Unterführung, dann flugs in die immer gut beheizte Karlspassage von Breuninger, danach rüber zur Markthalle.

Die Markthalle ist die schönste und bestriechende Wärmestube der Welt. Man taumelt aus der Käseduftversuchung hinein in den Konfektrausch, und ich schwöre: Als Wetterfühliger kann ich sogar verpackte Schokolade riechen. Ohne Anleitung finde ich auf Anhieb den Stand, an dem „Weicher Nougat mit Tropfenfrüchten“ hängt. Der sieht von Weitem aus wie Türkischer Honig, kommt aber aus Italien und schmeckt trotzdem einwandfrei und süß wie die Froschprinzessin.

Für einen Wetterfühligen wäre es billiger, einen Pelzmantel zu kaufen, als sich einen Winter lang in der Markthalle aufzuheizen. Die Aggression gegen Häute vom Tier hat sich ja etwas gelegt, seit der Papst Überzieher erlaubt. Zu meiner Freude hat der Papst jetzt gebeichtet, er schaue außer nach seinen Schafen auch Don-Camillo-Filme an. Damit müsste die Katholische Kirche endgültig in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts angekommen sein. Selbst Ministranten dürfen deshalb hoffen, eines Tages von den geltenden Kondom- und Menschenrechten zu profitieren.

Weil ich wettererfühlig bin, habe ich schon im vergangenen Jahr mit großer Neugier einen Trend beobachtet, wie sich Menschen gegen den Winter schützen. Manche, und das ist keine Behauptung unter Glühweineinfluss, ignorieren die Kälte, indem sie sich ausziehen: Sie sitzen bei Minusgraden mit T-Shirt, kurzen Hosen und Sandalen in der Straßenbahn. Meine Vermutung, spätestens beim Ausstieg würden sie eine Jack-Wolfskin-Jacke und Timberland-Latschen aus ihrem Eastpak-Rucksack ziehen, war falsch. Diese Leute demonstrieren Coolness auf brutalstmöglichem Niveau. Sie nehmen den Winter als Sommer, so wie die Jungs, die morgens bei Eiseskälte in ärmellosen Shirts aus den Clubs kommen und aus enttäuschter Liebe glühen.

Der Trotz der Halbnackten wirkt auf den Hypochonder weniger provokativ als die Mode der Mitläufer. Grausam, wenn sich die halbe Straßenbahn mit Leuten füllt, die aussehen, als müssten sie gleich als ihre eigenen Schlittenhunde zum Nordpol aufbrechen. Als würde es nicht reichen, den Expeditionskram von North Face und Wellensteyn an den Skihängen der Alpen vorzuführen. Wie lächerlich und unwürdig, mit „atmungsaktiven“ Klamotten in der City herumzurennen. Diese Leute in ihren pelzbesetzten Anoraks kommen daher, als hätten sie nicht nur ihre Häuser, sondern auch sich selbst isoliert und verdämmt.

Fehlt nur noch das Teil, das als Symbol des S-21-Befürworters Geschichte machen könnte: der Tunnelschal. Neulich quasselte der in der DDR geborene und in Remseck für den Westen sozialisierte Fußballer Matthias Sammer in die Fernsehkamera – und mit einem dieser kilometerlangen Einwickeltücher stand er da, als müsse er wegen seiner Eigenschaft, den Hals nie vollzukriegen, ein klaffendes Loch in seinem Schlund verschleiern. Andere sehen mit Tunnelschal aus, als sei ihnen beim Versuch, den Katholiken zu entkommen, der Turban verrutscht. Das wiederum macht die Anti-Terror-Polizei nervös. Und damit ist es gut für heute. Zurück hintern Ofen.

SOUNDTRACK DES TAGES



Vielleicht mal, wenn es S 21 erlaubt, einen Blick auf:

GLANZ & ELEND



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