Bauers Depeschen


Samstag, 30. Oktober 2010, 608. Depesche

AKTUELLES

Hier ist die Rede, die ich an diesem Samstag bei der Demonstration vor dem Bahnhof gegen Stuttgart 21 zum Thema "Kultur" gehalten habe:



Guten Tag, meine Damen und Herren,

ich begrüße Sie auf dem Arnulf-Klett-Platz.

Was die Straßennamen der Umgebung betrifft, sind wir hier im nicht existierenden Bahnhofsviertel in einer historisch und politisch sehr interessanten Gegend. Hier gibt es die Schillerstraße, unweit davon die Ossietzkystraße, die Geschwister-Scholl-Straße, die Willy-Brandt-Straße. Ausgerechnet aber in dieser Umgebung, wo man wenige Straßen eher widerwillig auch Widerstandskämpfern gewidmet hat - ausgerechnet hier hat man ein architektonisch anspruchsvolles Gebäude auf den Namen Hindenburg getauft – und damit Hitlers Wegbereiter ein Denkmal gesetzt.

Dass das Gebäude immer noch so heißt (auch wenn man unlängst das Reklameschild nach Protesten abgeschraubt hat), sagt etwas über die politische Kultur der Stadt. Über ihren Umgang mit Geschichte, mit Vergangenheit.

Ich muss hier und heute keine Position mehr zu Stuttgart 21 beziehen, es bringt keine neuen Erkenntnisse, immer wieder darauf zu verweisen, dass die Atombombe der Gesundheit schadet.

Dass man sogar die Bezeichnung Hindenburg-Schnitte aus Kochbüchern entfernt hat, in Stuttgart der Hindenburgbau aber als Entree für Gäste aus aller Welt steht, das ist kein Zufall. So wenig wie die Tatsache, dass man ohne Rücksicht auf den Denkmalschutz die historisch wichtigen Seitenflügel des Paul-Bonatz-Baus abreißt.

Die Entstehung dieser Architektur, die Motive des Baumeisters werden borniert und großkotzig missachtet. Bonatz hat für Stuttgart ein Stadtzeichen geschaffen, etwas Bleibendes. Und dies zu schützen, ist keine Geschmacksfrage, schon gar nicht, wenn der Geschmack der politischen Herrschaften schlecht ausgebildet ist. In Wahrheit geht es hier um die übliche Landnahme für die Eisenbahn, um ein großes Immobiliengeschäft. - Und nicht etwa um die läppische Herausforderung, schneller von A nach B zu gelangen.

Rigorose Maßnahmen wie die Zerstörung von Baudenkmalen sagen uns etwas über die Ignoranz der Geschichte: Die Politiker haben kein Interesse, die Brücken zur Vergangenheit zu erhalten, um daraus zu lernen. Sie predigen stattdessen ihr Verständnis von angeblich technischem Fortschritt – und zeigen damit nichts anderes als die arrogante Nichtbeachtung gewachsener Kultur.

Dass es in dieser Stadt an Kultur fehlt, hat nichts mit den staatlichen Bühnen zu tun – auch wenn damit fahrlässig umgegangen wird. Stirlings Staatsgalerie in der Nachbarschaft des Bahnhofs etwa rutscht immer weiter ins Abseits – man hatte angeblich nie das Geld, die scheußliche Stadtautobahn zwischen Museen und Staatstheatern dorthin zu versenken, wohin man den Bahnhof bringen will, nämlich unter die Erde.

Begriffe wie Stadtplanung und Stadtentwicklung spielen bei uns keine Rolle – sehen Sie sich an, was am Bahnhof entstanden ist – und was in diesem Banken-Ghetto schon wieder geplant wird. Das ist Konfektionsarchitektur. Städtebau ist bei uns ein Fremdwort – und der Baubürgermeister lebt wie eh und je im Tunnel.

Dass die Kultur in dieser Stadt gelitten hat, merken wir auch am Umgang mit der Sprache. Jetzt redet die Machtbacke aus Mühlacker bis zum Erbrechen von Kommunikationsfehlern. Was ist das für eine Lüge: Sie wollen keine Kommunikation, sie wollen nicht das Gemeinsame, worauf das Wort Kommunikation hindeutet. Sie wollen keinen Dialog zwischen Politikern und Bürgern. Sie lassen lieber Werbefritzen aus der Kreisklasse Plakate hängen nach dem Motto:

„Es stimmt zwar, dass man bei einem Wasserwerfer-Angriff ein Auge verlieren kann.

Es stimmt aber auch, dass wir das Grundwassermanagement durchprügeln.“

Meine Damen und Herren, wenn Sie mit der Bahn vom Bahnhof zum Theaterhaus fahren, sehen sie rechts die Werbung einer Immobilienfirma. Darauf steht: Stuttgart 21 kommt! Sie auch?

Jawohl! Ich kommT. Du kommT. Si-com-atic – das ist die Sprache aus dem Schnellkochtopf der Marketing-Labersäcke.

Die Politiker sind nicht in der Lage, Sprache als Mittel der Verständigung, als Brücke zu den Bürgern zu benutzen. Sie faseln etwas von Kommunikationslöchern – als gäbe es für diese Sorte Mensch nicht präzisere Bezeichnungen. Womöglich meinen sie auch Korruptionslöcher.

Von den Migranten in diesem Land fordert man deutsche Sprachkenntnisse.

Ohne die Sprache, heißt es, gebe es keine Integration. Wenn das stimmt, muss eines klar sein: Die Politiker dieser Stadt und dieses Landes sind an ihrer Sprache gescheitert. Sie haben sich nämlich nie in die Realität der Menschen integriert, die hier leben und arbeiten. Sie leben auf einem anderen Planeten. Deshalb begreifen sie auch nicht, warum die Menschen eine andere emotionale Beziehung zu ihrem Bahnhof haben als zu einer Tiefgarage unterm Landtag oder zur VIP-Lounge im Flughafen.

Wenn aber die politische Kultur kaputt gegangen ist, dann darf das nicht heißen, dass wir uns die Kultur an sich zerstören lassen. Auch dann nicht, wenn man Denkmalschützern einen Maulkorb verpasst. Deshalb ist es wichtig, was beim Protest gegen Stuttgart 21 passiert: Hier entsteht, außerhalb der offiziellen Häuser, eine neue urbane Kultur, getragen von der Fantasie, der Neugier und dem Bedürfnis der Bürger nach Mitgestaltung.

Die Hauptdarsteller diese Stücks sind Menschen aus den verschiedensten Nischen, und um das zu sehen, braucht man Augen - und keine Umfragen.

Mag sein, dass Demonstrationen wie heute die Züge großer Open-Air-Festivals tragen – daran aber ist nichts falsch. Im Gegenteil. Diese Kultur ist ohne den Werbemüll der Marketing-Scharlatane entstanden. Die Menschen haben gelernt, ihr Ding nicht MIT, sondern TROTZ der herrschenden Kulturpolitik zu machen.

Was Kommunikation nach dem Verständnis der Marketing-Technokraten hervorbringt, haben wir neulich gesehen, als Pro-Stuttgart-21-Leute T-Shirts verteilten mit der Botschaft: „Tu IHN unten rein!“. Solche Produkte der Dummheit muss man man nicht moralisch bewerten. Mir ist dabei nur etwas über die politische Entwicklung in gewissen Kreisen klar geworden:

Unter Kohl war wichtig, was hinten raus kommt.

Unter Mappus zählt, was unten reinkommt.

Lassen Sie sich nicht beirren, meine Damen und Herren: Entscheidend ist, was oben abläuft – in diesem Sinne: ein erregendes Wochenende!

SOUNDTRACK DES TAGES



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HILFE

Danopticum & Montagegruppe präsentieren:

Montag, 1. November, Allerheiligen, 20 Uhr:

Theaterhaus Stuttgart

"People`s Park"

Benefizkonzert zugunsten der vier Demonstranten, die am 30. September im Schlossgarten durch den Einsatz von Polizeiwasserwerfern schwer verletzt wurden. - Mit dem Bächli & Braun Country Sextett, Sandra Hartmann, L'égotrip, Long Lost Souls, Markus Söll & Band, Suspiros Costeños, Tender Buttons, Daniel Vujanic u. v. a.

Einer der schwer verletzten Demonstranten ist der Musiker Daniel Kartmann, Veranstalter der danopticum-Reihe und Vater von drei Kindern.

BILDER VOM PARK



NOCH KARTEN FÜR DIE NACHT DER LIEDER

Für "Die Nacht der Lieder", die Benefizshow zugunsten der Aktion Weihnachten der StN, gibt es noch Karten. Inzwischen ist nämlich auch die T1-Empore im THEATERHAUS geöffnet. Der Vorverkauf läuft gut, wer Lust hat, sollte sich beeilen. Die beiden Abende zum zehnjährigen Bestehen der Veranstaltung gehen am Donnerstag, 16., und am Freitag, 17. Dezember, über die Bühne. Beginn jeweils 19.30 Uhr. Eric Gauthier führt als Zeremonienmeister durch die Show und bringt seine Band und Tänzer mit. Es spielen: Wolfgang Dauner & Flo Dauner, die füenf, Dacia Bridges, Motti Kastón (Staatsoper Stuttgart), Bernd Konrads Saxophon Quartett, Die Kleine Tierschau u. a. Die Einnahmen gehen direkt an Menschen in Not. Siehe auch:



DIE STN-KOLUMNEN



FRIENDLY FIRE:

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VINCENT KLINK

UNSERE STADT

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EDITION TIAMAT BERLIN (Hier gibt es mein aktuelles Buch "Schwaben, Schwafler Ehrenmänner - Spazieren und vor die Hunde gehen in Stuttgart")

www.bittermann.edition-tiamat.de (mit der Fußball-Kolumne "Blutgrätsche")

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