Bauers Depeschen


Freitag, 25. Juni 2010, 524. Depesche



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MY BLACK BOULEVARD (10) - frisch um Mitternacht



Abschiedslied des Tages



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LUTZ SCHELHORNS BAHNHOFSBILDER "EINS VOR 21"

Text zur Ausstellungseröffnung



Am Donnerstagabend wurde in der Kunststiftung Baden-Württemberg Lutz Schelhorns Foto-Ausstellung "Eins vor 21" über den Stuttgarter Hauptbahnhof eröffnet; gleichzeitigt wurde das dazugehörige Buch vorgestellt. Die Schau ist bis zum 24. Juli in der Gerokstraße 37 in Stuttgart zu sehen: Mo - Fr 9.30 Uhr - 13.30 Uhr, Sa 11 Uhr - 15 Uhr. Auf Wunsch stelle ich hier meine Rede ins Netz, die ich bei der Eröffnung gehalten habe:



Guten Abend in der Kunststiftung,

heute ist der 24. Juni, meine Damen und Herren, es ist circa 20 Uhr, und ich hoffe, Sie fühlen sich nicht wie die Eins vor 21. In Wahrheit glauben Sie nach wie vor an die Wende zum Guten im zehnten Jahr des 21. Jahrhunderts. Der Stuttgarter Hauptbahnhof wäre bereit - für die Ankunft des Sommers 2010, im letzten Sommer des Paul-Bonatz-Baus.

Willkommen bei Lutz Schelhorns Foto-Ausstellung und Buch-Präsentation.

Vor zwei Tagen war ich hier oben im Haus der Kunststiftung, die Betonung liegt auf oben. Ich habe zum Fenster hinaus geschaut, hinunter auf das südliche Stuttgart. Nach einer Weile habe ich die Kunsthistorikern Ramona, sie war zufällig da, gefragt, ob man hier auch den Hauptbahnhof sehen könne, vielleicht vom Dach; Ramona hat früher einige Zeit hier oben gewohnt. Nein, hat sie gesagt, sehen könne man den Bahnhof nicht. Aber hören. Wenn es ruhig ist am Abend, dringen die Signale vor den Lautsprecher-Durchsagen bis herauf, in diese Räume.

Spitzen Sie die Ohren, meine Damen und Herren. Man kann nicht genau verstehen, ob unter den Weinbergen ein einfahrender Zug aus Paris oder aus Tübingen angesagt wird, aber man hat eine gute Verbindung zum Bahnhof, und das ist gut für die Seele.



In der Nähe von hier, in der Gellertstraße, steht das Haus der Galerie Valentien, erbaut hat es Paul Bonatz, einer der wichtigen Vertreter der Villen- und Wohnhausarchitektur zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Es sind die kleinen Dinge, die das Bild einer Stadt prägen, wenn man in der Lage ist, die kleinen Dinge assoziativ wahrzunehmen, ihre Zusammenhänge zu erkennen und sie darzustellen. Es sind nicht nur ein Automuseum, der Rummelplatz oder ein Glühweindorf mit Kontakthof, die den Charakter der Stadt den Menschen vermitteln. Marketingleute definieren den Charakter einer Stadt als Marke, allerdings ohne zu begreifen, dass Marken von Geschichte, von Mythen, von Legenden gemacht werden. Und nicht von schneller, billiger Plakatwerbung.

Es sind die Eigentümlichkeiten, die Facetten, auch die Geheimnisse, deren historisches und gegenwärtiges Zusammenspiel man begreifen muss, um der Stadt nach innen und außen ein Gesicht zu geben.

Lutz Schelhorn, den ich schon ein paar Tage und im GROBEN und Ganzen 30 Jahre lang kenne, hat sich, als er vor einigen Jahren zur Kamera griff, der Stadt von außen genähert. Er hat sich langsam in ihren Bauch und in ihr Herz vorgearbeitet.

Manchmal ist die Kamera tatsächlich eine Art chirurgisches Instrument. Sie seziert das Leben, vorausgesetzt, der Fotograf hat einen Blick, das Auge für die kleinen Dinge, für die Bedeutung der Nebenstraße

Lutzs Schelhorns langsame Annäherung an die Stadt hat mit seiner Geschichte zu. Er ist ein Rocker, ein Hells Angel, deshalb hat er viel Zeit auf einem Motorrad verbracht. Das heißt: Er ist lange auf einer Harley an der Welt vorbeigefahren, hat ihre Bestandteile als fliegende Silhouetten, als Film wahrgenommen. Die Haltestationen auf dieser Tour lagen im Randmilieu, sie hatten immer einen bestimmtes Licht, einen bestimmten Geruch und eine merkwürdige Geräuschkulisse – Dinge, die vor allem in den Nächten die Psyche beeinflussen.



Als Lutz Schelhorn anfing, Fotos zu machen, hat er sich zunächst seinem, dem ihm bekannten Milieu und dessen Menschen genähert. Das waren Verlierer und Gestrandete, die Junkies und Obdachlosen unter der Stuttgarter Paulinenbrücke. Daraus enstand seine erste Ausstellung.

Das Geheimnis, gute und wahre Bilder von Menschen und ihren Gesichtern zu machen, liegt am Geschick, von diesen Menschen nicht primär als Fotograf wahrgenommen zu werden. Am besten wäre es für den Fotografen, überhaupt nicht bemerkt zu werden. Sonst beginnt unbewusst eine Art Posing der Figuren, und entsprechend fallen die Bilder aus. Der kürzlich verstorbene Fotograf Dennis Hopper hat es geschafft, Andy Warhol zu fotografieren, ohne dass Andy Warhol aussah wie der gerade fotografierte Andy Warhol. An diesem Punkt fängt Fotokunst an.

Lutz Schelhorn wurde bei seiner Arbeit, die Menschen zu fotografieren, sehr wohl wahrgenommen, aber als ein Insider, das heißt: Er wurde im Milieu akzeptiert. Aus diesem Vertrauen entsteht gute, präzise Dokumentation, und auf diesem Feld bewegen wir uns in dieser Ausstellung, mit diesen wichtigen Bildern vom Stuttgarter Hauptbahnhof.



Lutz Schelhorn hat mir einer altertümlichen Kamera gearbeitet, einem sperrigen, großformatigen und teuren Instrument. Es erzeugt Bilder wie aus Opas Kino, sie erscheinen alle wie Relikte der Vergangenheit. In Wahrheit sind sie aktuell. Das ist der Trick dieser Bilder. Jede Form emotional überzeugender Darstellung, jede Inszenierung publikumswirksamer Aufführung braucht einen Trick. Und in dieser Schau kann man ihn erkennen. Wenn in einem Foto von Lutz Schelhorn ein moderner ICE in den Hauptbahnhof einfährt, sieht der Zug aus, als käme er aus einer längst vergangenen Zeit, als sei er ein Bruder der Dampflokomotive.

Diese Täuschung auf den ersten Blick entsteht, wie viele Effekte in der bildenden Kunst, durch den Umgang mit Licht. In den Schwarz-weiß-Bildern vom Paul-Bonatz-Bau scheinen die Schatten der Vergangenheit zu dominieren. Es sind warme Schatten.

Das Konzept Schwarz-Weiß verführt manchen Betrachter, die Dinge emotional zu verklären, sie nostalgisch zu sehen. Andererseits hat das Schwarz-Weiß-Bild auch etwas Bedrohliches, es erzeugt Angst vor dem Ende, vor dem Tod. Ein Bahnhof mit der monumentalen Wucht, dem kathedralenhaften Stolz des Stuttgarter Bonatz-Baus hat eigentlich nichts Vergängliches. Er scheint für die Ewigkeit gebaut. Es sind Menschen, die ihn, jedenfalls zu Teilen, ins Jenseits befördern, die Architektur amputieren, dem Bahnhof die Flügel abhacken.



Der Konflikt um Stuttgart 21 hat die gesamte Stadt in eine Schwarz-weiß-Situation hinein manövriert. Die Situation ist inzwischen buchstäblich komisch, wie in einem alten Hollywood-Western: Die Guten reiten mit weißen Hüten von links ins Bild, die Bösen mit schwarzen Hüten von rechts. Selbstverständlich wird in diesem Szenario von jedem erwartet, eine Position einzunehmen. Der Riss geht inzwischen durch Familien, durch Freundschaften. Es gibt in dieser Stadt schon lange einen Krieg in den Köpfen, und dabei wird es nicht bleiben.

Vom Fotografen, vom Porträtisten des Bahnhofs eine politisch formulierte Position zu fordern, wäre so dämlich wie früher der Versuch, Rock'n'Roll-Songs der politischen Revolte zuzuordnen.

Wenn ein Fotograf den elektrischen Stuhl fotografiert, muss er nicht unter sein Bild schreiben, dass dieser Stuhl der Gesundheit eines Menschen schadet. Die Abbildung der Welt ist Urteil genug. Und wenn Lutz Schelhorn im Jahr 2010 den Stuttgarter Bahnhof fotografiert, ist klar, dass es um ein Vermächtnis geht.

Der Bonatz-Bau ist ein Opfer dessen, was Amerikaner als Fassadism bezeichnen, als die Methode, ausgebeinte Fassaden ohne ihren historischen Kontext stehen zu lassen. Deshalb können uns später nur korrekte Bilder Auskunft geben, was Paul Bonatz' Architektur den Menschen bedeutet hat, welche Geschichte sie reflektiert.

Die aktuellen Werbebotschaften geben darüber keine Auskunft. Der Architekt Max Bächer hat neulich in der Frankfurter Rundschau über Stuttgart 21 und den Umgang mit Geschichte und Heimat geschrieben:



„Die charakteristischen Merkmale stehen oft nur noch auf dem Papier und werden kaum mehr wahrgenommen. Ihre Spuren vergehen immer schneller und auch Interesse und Verständnis für deren Herkunft und Bedeutung. Wir sehen keine Räume mehr, sondern nur noch digitalisierte Flachbilder, weshalb sich manche - auch Architekten - fragen, was denn an der kannibalischen Notschlachtung der beiden Flügel des Bahnhofs so schlimm sei. Die zahlreichen Modelle in der Monsterschau ,Stuttgart 21' geben darauf keine Antwort, weil Größenverhältnisse und Maßstäbe fehlen und räumliches Vorstellungsvermögen nicht vorausgesetzt werden kann. Dem kastrierten Bahnhof würde ohne die Flügel eine Wand als unverzichtbare Abgrenzung und Einbindung in die Umgebung fehlen, sein Torso wie eine Kreuzung aus Kirche und Ordensburg herumstehen.“

Lutz Schelhorns Bilder kommentieren nicht den Umgang mit dem Bahnhof, sie trauern ihm nicht nach. Er hat die Architektur, das Innenleben und die für den Fahrgast unsichtbaren Winkel und Keller des Bahnhofs abgebildet. Er war auf den Toiletten des Atombunkers, im Büro der Bahnhofsmission und im Wartesaal, dem ewigen Symbol des Lebens.



Anders als die Schwarz-weiß-Politik mit ihrer strategischen Einteilung in Gut und Böse verfügt die Schwarz-weiß-Fotografie über das Grau, dieses wichtige, unterschätzte Element der Bildgestaltung. Das Grau in Schwarz-weiß-Bildern ist es, das Extremismus vermeidet, ohne Strukturen zu verwässern. Grautöne in Schwarz-weiß-Bildern haben eine andere Bedeutung als der Begriff Grautöne in der Alltagssprache, wo man sie als Synonym für Ungenauigkeit, für Nebulöses, für Wischiwaschi verwendet.

Lutz Schelhorns Bilder haben eine klare Sprache. Man sieht, wie sich die riesigen Räume des Bahnhofs praktisch zeitlos öffnen. Wie sich anonyme Menschen darin verlieren. Man kann, weil Lutz Schelhorn ein guter Beobachter und Wahrnehmer ist, den Soundtrack eines Stadtquartiers, eines Lebensraums hören. Man scheint diesen Klang sogar deutlicher zu hören als die Lautsprecher-Durchsagen im Bahnhof, welche die Kunsthistorikerin Ramona in der Gerokstraße 37 hören konnte.

Für Lutz Schelhorns Buch habe ich eine kleine Geschichte mit dem Titel „Die Station“ geschrieben, darin heißt es:

„In Bahnhöfen liegt etwas Unvergleichliches in der Luft, etwas Unvermeidliches. Zum Bahnhof bin ich sonntags zu Fuß geschlichen oder mit dem Taxi gefahren, wenn der Kühlschrank leer war. Zum Bahnhof ging ich, wenn ich kein Buch für die Nacht hatte und kein Geschenk für eine Dame. Am Bahnsteig habe ich etwas über Ankunft und Abschied gelernt, über Liebe und Verlust. Und manchmal hat einer vergeblich gewartet, am toten Gleis.

Der Bahnhof mit seinem Bazar, seinem Schmuddel und seiner Offerte, eines Sonntags das Leben mithilfe des Drogeriemarkts neu zu starten, ist eine Stätte der Besinnung. Eine Kirche. Der Bahnhof erzählt Geschichten, er lebt. Was dagegen ist die flirrige Kälte eines Flughafens, das fahrige Klotürenschlagen einer Autobahnraststätte.“

Der Bahnhof ist für mich wie ein Stück aus einem Lied von Johnny Cash:

Train of love's a-comin', big black wheels a-hummin' / People waitin' at the station, happy hearts are drummin'.

Achten Sie auf Ihr Herz, meine Damen und Herren -

Vielen Dank und schönen Abend

(joe bauer)



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