Bauers Depeschen


Donnerstag, 02. Juli 2009, 348. Depesche



Eine kurze Geschichte aus dem Stuttgarter Osten, erschienen in der "Stuttgarter Nachrichten"-Serie "Stadtquartiere":



IM RIO SIND DIE GRENZEN GRÜN



Ein sechsstöckiges Hochhaus erhebt sich als Wahrzeichen der kleinen Siedlung im Osten, an der Hackstraße mit Blick auf den Gaisburger Gaskessel. Der Kubus vermittelt Stil und Stolz, architektonische Würde, die es mal gegeben hat. Einst gab es im Hochhaus des Viertels, wie in jeder Arbeitersiedlung, eine Konsum-Filiale. Heute findet man im Erdgeschoss als letzten Laden des Raitelbergs den türkischen Emektar-Markt. Daneben hat ein Spaßvogel seine Callshop-Bude Paradies getauft. Im Garten Eden gibt es Flaschenbier für die Einsamen.

Raitelsberg. Schnell lerne ich, dass die Leute nicht "in", sondern "im" Raitelsberg zu Hause sind, so wie die Berliner nicht in Wedding, sondern im Wedding wohnen. Die Raitelsberger, vor allem die jungen, haben sich längst darauf geeinigt, "vom RIO" zu kommen: vom Raitelsberg im Osten.

Er sei stolz, ein echter Junge vom RIO zu sein, sagt mir Artur, er ist zwölf. Ich treffe ihn auf der Straße, wie jeden Tag geht er Fußball spielen auf dem Platz seiner Schule. Arturs Eltern sind Russen. Von den 650 Familien in Raitelsberg sind die meisten Ausländer, Migranten.

Die Raitelsbergsiedlung, ein Dreieck zwischen Park-, Röntgen- und Sickstraße, zählt weithin zu den wichtigsten städtischen Wohnungsbauprojekten der zwanziger Jahre. Und sie gehört zu den vielen Geheimnissen des Ostens. Der Raitelsberg ist ein heute nur noch leidlich bekanntes Quartier mit schönen grünen Grenzen. Die architektonischen Reize, die Bauhauselemente sind in der Öffentlichkeit so gut wie vergessen.

Fahrlässig haben viele den Raitelsberg lange als "sozialen Brennpunkt" abgestempelt, Internetseiten berichten über "Konflikte mit alkoholkranken Einwohnern". Einmal ist in einer Wohnung ein Baby verhungert, das war 1996, eine alte Geschichte. Sozialarbeiter und Polizisten sind heute mit der Entwicklung in der Siedlung zufrieden, vor allem in der jüngeren Vergangenheit.

Früher, ja früher, sagt Ewald Conzmann, 89, habe der Raitelsberg wie Heslach und der Hallschlag zu den "Schreckensvierteln" der Stadt gehört. Da trieben sich Jugendbanden auf den Straßen herum, und auf dem Bolzplatz am Eingang zum RIO haben die Männer und Jungs reichlich getankt.

Ewald Conzmann, ein ehemaliger Arbeiter und Betriebsrat, wohnt seit einer Ewigkeit im einst "roten Osten", seit 40 Jahren im Raitelsberg. "Für den besten Opa der Welt", hat einer seiner Enkel auf ein Blatt Papier gemalt und es an die Wand gehängt. In Ewald Conzmanns Regal stehen die Schriften von Marx, Engels, Stalin. "Die sind heute nicht mehr wichtig", sagt er, "das Wichtigste ist das Mietrecht." Fünfzehn Aktenordner hat er in seinem langen Kampf um das Recht auf menschenwürdiges Wohnen gefüllt. "Ich habe mich immer gewehrt", sagt er.

Ich kann froh sein, dass er mit mir redet. Mit "der Presse" hat er selten gute Erfahrungen gemacht. Oft haben ihn die Zeitungsfritzen links liegengelassen, wenn er im überfüllten Versammlungsraum der Friedenau im Nachbarviertel Abelsberg gegen die Vermieter gewettert und schließlich recht bekommen hat. Der größte Vermieter der Siedlung war früher die Stadt, heute ist es das städtische Tochterunternehmen SWSG. Jeder Raitelsberger kennt Ewald, den heimlichen Bürgermeister vom RIO. "Ein guter, ein interessanter Mann", sagt der Bezirksvorsteher Bernhard Kübler, und der CDU-Mann Kübler ist nicht als roter Sympathisant verdächtig.

Wenn heute schon kein Politiker mehr mit dem Grundgesetz unterm Arm herumläuft, so ist doch Ewald nach jedem SWSG-Schrieb an die Raitelsberger mit dem Mietrecht unterwegs. Noch nachts im Schlaf wünschen sich die Herren der Häuser einen leichteren Gegner. Er erzählt, wie die Miete in 40 Jahren von 76 Mark auf 400 Euro gestiegen ist. "Die Leute sind immer ärmer geworden", sagt er.

Ewald Conzmann ist einer der letzten Zeitzeugen der ersten Generation im Raitelsberg. Er hat alle Veränderungen mitgemacht, den Wandel der deutschen Arbeitersiedlung seit den sechziger Jahren zum multikulturellen Wohnquartier. "Ich muss nicht in Urlaub", sagt er, "ich bin jeden Tag auf der ganzen Welt in Urlaub."

Ich bin mit dem Sozialarbeiter Frieder Buyer bei Ewald Conzmann aufgekreuzt. Buyer arbeitet seit 30 Jahren auf dem Aktivspielplatz Raitelsberg, Aki genannt. An einem Hang, ein paar Meter über der Grenze vom Raitelsberg, besuchen die Kinder einen der wildesten Spielplätze der Stadt. Auf dem Gelände gibt es zwei Pferde, eine Ziege, Schafe. "Diese Bewegungsfreiheit ist für die Kinder sehr wichtig", sagt Buyer, "man sitzt extrem eng aufeinander im Viertel."

Südländische Gepflogenheiten, wie es immer noch klischeehaft heißt, prägen das Leben. Manchen im Raitelsberg stören abends die Kinder auf der Straße, das Rollschuhgepolter auf den Steintreppen der Häuser mit ihren dünnen Wänden. "Die Akzeptanz ist dennoch erstaunlich", sagt Buyer.

Die wenigen Deutschen, die hier noch leben, sind Rentner, wie Gisela Lezius, eine frühere Verlagsfachkraft. Seit 40 Jahren wohnt sie im Raitelsberg. "Früher", sagt sie, "da hatten wir hier alles." Da gab es noch Geschäfte. Den Konsum, den Metzger, die Drogerie, den Friseur.

Gisela Lezius ist geblieben. "Raitelsberg ist meine Heimat", sagt sie.

Ich gehe in die Bäckerei Hegele, das einzige Stehcafé im Quartier. Der Bäckermeister Martin Blankenhorn führt mit seiner Frau Judith den Laden seit zwölf Jahren. "Zu mir kommen Kunden aus aller Herren Länder", sagt er, "wir kommen gut miteinander aus.“ An der Fassade des Ladens ist, wie an vielen anderen RIO-Häusern, eine steinerne Märchenfigur zu sehen - und die Jahreszahl 1926.

Zwischen 1926 und 1929 haben die Architekten Alfred Daiber und Georg Stahl den Bau der Siedlung geleitet. 800 Dreizimmerwohnungen, eine Ansammlung verschiedener Gestaltungselemente und Farben. "Eine derartige Stilmischung war nur denkbar, bevor die heftige Auseinandersetzung um die Weißenhofsiedlung die Architektenschaft in ein progessives und ein konservatives Lager spaltete", heißt es im "Architekturführer Stuttgart".

Noch ist viel vom städtebaulichen Aufbruch der zwanziger Jahre zu sehen, auch wenn bei Renovierungen leider oft die Willkür gewaltet hat. Der Raitelsberg, verschämt ins Abseits gebaut und von der Hackstraße aus kaum zu sehen, ist so wenig ein Schreckensviertel wie auf der anderen Straßenseite Ostheim. Der Raitelsberg ist eine Fundgrube für Geschichten, aber ein Zeitungstext kein Roman. Noch ein Bier im Paradies, ein Prosit auf Ewalds Osten und zurück nach Westen.



REKLAME:

Samstag, 18. Juli 2009, 19.30 Uhr: Flaneursalon mit Michael Gaedt & Michael Schulig, Dacia Bridges & Alex Scholpp beim Festival Cannstatter Kulturmenü. - Rilling Sekt, Brückenstraße 10, Innenhof-Garten.



FUSSBALL IST UNSER LEBEN

Samstag, 8. August, Theaterhaus Stuttgart, 20 Uhr: "Hurra, wir kicken noch!", die Show zur mentalen Unterstützung der Stuttgarter-Kickers-Fans und anderer Fußballfreunde. Mit Michael Gaedt + Michael Schulig & Band als Die Große Rockschau (Ex Kleine Tierschau), Nu Sports (Ska-Band), Timo Brunke (Sprachkünstler), Joe Bauer (Vorleser), Ralf Schübel (Hymnensänger). Moderation: Stefan Kiss (Sportreporter, SWR-Fernsehen). Eintritt: 9 Euro, so günstig wie ein Stehplatz auf der schönen Waldau. Der Vorverkauf läuft. www.theaterhaus.com - Kartentelefon: (0711) 4 02 07 20

(Siehe Depesche vom 15. Juni 2009)



Kolumnen in den Stuttgarter Nachrichten:

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