Bauers Depeschen


Montag, 13. April 2009, 310. Depesche



(Die Kickers haben 1:5 in Berlin verloren und endlich wieder ein Tor geschossen. "Der Bann ist gebrochen", simst mit George der Grieche, und wahrscheinlich fliegt der Trainer raus.)



BETR.: RATZER



BIS DIE KLAPPE FÄLLT



Als ich, eine in lila Samt gekleidete Vinyl-Box von Jimi Hendrix unterm Arm, am Hölderlinplatz aus der Bahn steige, spielt an der Ecke der Drehorgel-Mann. Mensch, Ratzer, denke ich, der Drehorgel-Typ wird noch Kohle machen, wenn deine Scheiben kein Mensch mehr kauft.

Ratzer, Vorname: Karl-Heinz, wurde 1954 geboren, sechs Jahre nach der ersten Platte aus Vinyl; sie hieß "The Voice of Frank Sinatra". Das Schellack-Zeitalter war vorbei, als Ratzer anfing, Fotos von Fußballern aus der Zeitung auszuschneiden. Vermutlich war er damals bereits am Sammler-Virus erkrankt. Er schnürte seine Fußballer-Bilder im Lauf der Jahre zu Päckchen und schickte sie an Vereine mit der Bitte um Autogramme. Als die Bundesliga gegründet wurde, war er neun, und der erste Club, der ihm einige Schnipsel unterschrieben zurückschickte, war der VfB. Seitdem ist Ratzer VfB-Fan.

Dass sich seine Sammelkrankheit bald auch auf den Lebensbereich Rock'n'Roll übertrug, gestaltete seine Existenz nicht einfacher. Am Anfang dieses Jahrtausends hat er mir erzählt, er besitze circa 25 000 Platten. Seine Freunde, die bei seinem letzten Umzug die Kartons die Treppen hochschleppen mussten, sagen, es handle sich um eine Million.

Es ist morgens um elf, die Gitter von Ratzer Records in der Paulinenstraße 44 gehen hoch, der Vertreter Gerald Haertel von der Hamburger Vertriebsfirma Indigo steht vor der Tür. Haertel, 50, betreut Südwestdeutschland. Frankfurt, Freiburg, Stuttgart, Saarbrücken. Gerade mal zehn Einzelhändler, sagt er, stehen noch auf seiner Liste, zwei davon in Stuttgart, neben Ratzer Second Hand Records in der Holzstraße 21, nahe Charlottenplatz. Ansonsten besucht er nur noch Filialen von Media-Markt und Saturn. "Früher", sagt Haertel, "waren wir in der Firma nur Leute um die zwanzig Jahre. Heute sind wir alle alt."

2008 wurde der Geburtstag der Vinyl-Schallplatte gefeiert, und nicht wenige Musikkritiker hatten ihr ein großes Comeback vorausgesagt. Unsinn, sagt der Vertreter Haertel, Vinyl bringe auf dem Tonträgermarkt maximal ein Prozent des Gesamtumsatzes. Und der Gesamtumsatz ist mies. Pro Jahr, sagt Ratzer, verliere er zehn Prozent. Wenn er ein halbwegs gutes Leben führen wolle, müsse er 1500 bis 2000 Tonträger im Monat loswerden. Er schafft 1000, ist aber zum Glück verheiratet. Bei der Hälfte seiner verkauften Scheiben handelt es sich tatsächlich um Vinyl. Bei Ratzer verkehren nur Sammler, treu wie die Fans eines angezählten Fußballclubs. Manche sind über 70. Man fragt besser nicht.

Mensch, Ratzer, denke ich, wir haben uns nicht getroffen, um über den Niedergang der Welt zu reden. In seiner Nick-Hornby-Bude, diesem Mikrokosmos des renitenten Nostalgikers, hängt alles, was Ratzer zum Leben braucht: ein VfB-Wimpel und ein halbes Dutzend Poster von Led Zeppelin. Club und Band stehen noch im Leben, wenn auch nicht in ihrer Blüte. Aber was heißt das. Es geht weiter, es geht um Neues. "Meine Arbeit", sagt Ratzer, "die mache ich, bis die Klappe fällt. Das ist das Gute an diesem Job, ein Bandarbeiter beim Daimler muss in Rente gehen."

Ratzer hat Kaufmann für Eisenwaren gelernt und immer Kunststoffscheiben verkauft. Seit 24 Jahren ist er selbstständig, zuvor jobbte er beim unvergessenen Govi auf dem Kleinen Schlossplatz. Als Ratzer anfing, mit Platten zu dealen, ohne sich um die Charts zu kümmern, rechnete keiner damit, irgendwann Musik auf einen hosenknopfgroßen iPod herunterzuladen. Mein Gott, sage ich, wir haben früher auch nicht geahnt, dass man die Zeitung eines Tages aus der Steckdose zieht.

Was aber hat sich wirklich geändert? "Den meisten jungen Leuten ist es egal, von welcher Band oder von welcher CD die Musik ist, die sie hören", sagt Ratzer, "Hauptsache, es dudelt, wurscht, ob im Supermarkt oder in der Kneipe."

Die Scheibe, egal ob CD oder Vinyl, sagt Haertel, habe "als Fetisch ausgedient". Sie tauge nicht mehr als Statussymbol. Anders gesagt: Man kann heute keine Dame mehr mit der Frage locken: Willst du meine Plattensammlung sehen? Wenn auf einer Unterhose drei Streifen zu sehen sind, bringt das mehr Punkte als das Logo von Coldplay auf einem CD-Cover. Und bevor wir den Schrott von Coldplay kaufen, würde Ratzer sagen, spendieren wir dem Drehorgel-Mann einen Kasten Bier.



BILLIGE REKLAME:

Joe Bauers Flaneursalon am Sonntag, 19. April (20 Uhr), in der Rosenau. Mit Roland Baisch & The Countryboys, Dacia Bridges und Michael Gaedt.

Neues Kartentelefon: 01805 700 733 (siehe "Termine").

ACHTUNG: Alles über unseren "Flaneursalon im Fluss" (im Juni auf dem schwimmenden Neckarschiff "Bad Cannstatt") am 19. April in der Rosenau.



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www.stuttgarter-nachrichten.de/joebauer



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