Bauers Depeschen


Donnerstag, 27. März 2008, 130. Depesche

Eine wahre Geschichte:



DER ENGEL VON LONDON



Ein bauernschlauer Weingärtner aus Heilbronn, im Nebenberuf Abgeordneter der FDP, kam Ende der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts auf die Idee, verkürzte Sperrzeiten für die Kneipen in Stuttgart zu fordern. Zuvor war er zur politischen Weiterbildung in die Hauptstadt Berlin gefahren, um sein Flaschendasein zu beenden. Er wollte auch in Stuttgart nächtens unbehelligt sein Maul aufreißen.

Sperrzeiten zu verkürzen heißt ja nichts anderes, als die Nächte zu verlängern. Die Grenzen in den Revieren der Wissenden abzuschaffen.

Ein idiotischer Plan. Mit der Liberalität am Zapfhahn drohte der Verlust des letzten Abenteuers: die Flucht vor der Frühschicht der Bullen.

Die Geschichte vom FDP-Winzer ging mir durch den Kopf, als ich Jahre später in London meinen Freund Gary besuchte. Gary ist Chef der britischen A-cappella-Band Flying Pickets. Wir hatten mithilfe guter Sesam-öffne-dich-Codes für die Kneipentüren in Stuttgart einige nächtliche Tourneen gestartet. In der Stadt, in der Gary wegen einer Frau Zeit Quartier bezogen hatte, schlug die Stunde der Wahrheit meist morgens um vier. Der letzte legal geöffnete Laden, die Disco AT, machte dicht, danach hatten wir ein Problem. Morgens um vier war das letzte Lied noch nicht gesungen, aber erst um sechs öffneten die wenigen Frühkneipen.

Mit etwas Stehvermögen und gutem Trinkgeld war es möglich, den Rausschmiss aus der Disco bis halb fünf hinauszuzögern. Danach leuchteten nur noch einige Rotlichter, die weder den Stimmbändern noch dem Geldbeutel eines Sängers Gutes versprachen.

In diesem Elend kam es darauf an, mit den Weihen der Stadt gesegnet zu sein. Wir schlichen in der Dämmerung zum Fenster des liberalen Bäckers Schmälzle in der Hauptstätter Straße. Der liberale Bäcker Schmälzle reichte frische, heiße Schinkenhörnchen durchs Fenster, an guten Tagen öffnete er auch die Tür zu seiner Backstube.

Kein Mensch, der die Verbote der Nacht nicht kennt, kann ahnen, was es heißt, einen vom Fusel angesäuerten Magen kurz vor Sonnenaufgang mit einem heißen Schinkenhörnchen zu verwöhnen, zumal in einer Epoche, da es auch die nächtlichen Kebab-Salons nicht gab.

Gary hat nie das Brot der frühen Jahre schätzen gelernt. Er war ein verwöhnter Sänger. Wenn ihn seine deutsche Dame am Morgen Brötchen holen schicken wollte, zog er sich mit dem Hinweis zurück, er sei kein Dienstbote, sondern ein Gentleman. Er war ein streng gescheitelter Kopf voller britischer Eigenheiten. Manchmal ging er auf die Bühne und brüllte in den Saal: „Do you want Rock‘n‘Roll?“ Danach, wenn das Publikum mit Hilfe aller zur Verfügung stehenden Englischkenntnisse „Yeah!“ zurückgeschrien hatte, flötete Gary mit schwulem Oxford-Nasal: „I’m sorry, I don’t play any Rock’n‘Roll.“ Dann ahmte er mit seiner Stimme eine Trompete nach und blies uns den Dixie, die Musik vollbärtiger Studienräte, wofür ihm heute noch eine Backpfeife gehört.

Eines Abends fuhr ich hinaus ins Londoner East End zu Gary. Eine unwirtliche Gegend. Verlassene Fabrikgebäude, abgewrackte Backsteinhäuser. In diesem Niemandsland hatte kurz zuvor eine Yuppie-Bar eröffnet, prompt schnellten in der Umgebung die Wohnungsmieten hoch.

Wir setzten uns in einen Club voller schöner Menschen, verzehrten einen kleinen Fisch für 50 Pfund pro Mann und drohten an Hunger und Kokswolken zu sterben, als Gary sagte, es sei an der Zeit, das Lokal zu wechseln. Wir machten uns auf den Weg zu einem Pub, einem „sad Pub“, sagte Gary.

Kurz vor elf landeten wir im traurigen Pub. Kein guter Zeitpunkt, denn bis zu jenem Tag wurden um elf Londons Pubs geschlossen. Von außen erinnerte der Laden an eine getarnte Garage, in der man einen unbezahlten Rover vor den Kredithaien verstecken könnte. Am Tresen begrüßte uns ein alter Mann mit Landkartengesicht, seine Gesichtshaut bröckelte, als habe er die Furchen mit Fensterkitt verspachtelt. An den paar Tischen saßen wenige, leise sprechende Leute, vielleicht Schmuggler, und ich dachte, wir bestellten einen Letzten zum Gehen.

Als es elf schlug, zog der Mann mit dem Gesichtskitt seine Schürze aus und verschwand im Dunkeln. Ein Jüngerer kam, ließ die Rollläden runter und prüfte die Zapfhähne. Er stellte Kerzen auf die Tische und löschte das elektrische Licht.

Eine Frau schwebte durchs Lokal, eine schwarze Göttin. Keine Ahnung, woher sie gekommen war. Sie ging zur Tür. Irgendwo da draußen mussten sich unzählige Unsichtbare befinden, ihre Klopfzeichen sollten wir schon bald vernehmen.

Die schwarze Schönheit stand in dieser Stunde an der Schwelle zum Glück. Sie stand einfach da, senkte und hob den Daumen. Sie musste ein Engel sein, der über den Schlüssel zum Paradies verfügte. Gary, der Sänger, lächelte wissend und summte lautlos ein Lied. Der Mann am Tresen des traurigen Pubs bediente geräuschlos die Gäste.

Wir saßen, umlagert von Menschen, am Tisch und tranken. Ich kaute verunsichert auf den Lippen. Mein kleiner Fisch schwamm einsam in einem Meer von Magensäften.

Dann kam der Engel, ein Tablett in der Hand, es glänzte im Kerzenschein wie Silber. Gary hörte auf, lautlos zu summen und griff in die Innentasche seines Jacketts. Er fischte ein Lederetui heraus. Mit der Erhabenheit eines britischen Lords förderte er ein Besteck zu Tage, fein geschmiedet wie am Hof der Königin.

Ich weiß nicht mehr, wann wir nach Hausen gingen. Ich saß im Taxi, der Fahrer legte eine Kassette ein, und in der Stille von London wummerten die Bässe des Reggae.

Mittlerweile sind nicht nur die Sperrzeiten in den Pubs von London aufgehoben. Jeder FDP-Provinzler reißt heute ungehindert in der Frühschicht der Stadt die Klappe auf. Nur die Eingeweihten von einst, die Artisten der Abgründe, die sich per Klopfzeichen durch die Nächte hangelten, sind ausgestorben. Alles ist verdammt gewöhnlich geworden auf den Türsteherpartys der Stadt, auch in Garys sad Pub im Osten, wo die Bullen lange nichts wussten von der Sünde des schwarzen Engels.

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