Bauers DepeschenDonnerstag, 26. Februar 2009, 291. DepescheBETR.: GEHEN ODER SITZEN, TIERSCHAU Aus aktuellem Anlass eine kleine Geschichte über das Stuttgarter Gerichtsviertel. Ach so, der Anlass: Heute Morgen (11 Uhr) war ich als Justiz-Tourist im Stuttgarter Landgericht. Ernst Mantel, Ex Die Kleine Tierschau, hatte gegen Michael Gaedt und Michael Schulig, beide Ex Die Kleine Tierschau, geklagt. Nach einem "Trauerspiel", so der Richter, und einem in der deutschen Rechtssprechung bisher einmaligen Namensstreit innerhalb einer Ex-Band einigte man sich auf folgende Regelung: Gaedt & Schulig werden nach ihrem Gastspiel im Stuttgarter Theaterhaus (bis zum 3. März 2009) weder sich noch ihre Show weiterhin "Die Große Tierschau" nennen. Der Begriff "Tierschau" darf in Zukunft in Band- oder Produktionsnamen von Gaedt & Schulig - und Mantel - nicht mehr auftauchen. Die Gerichtskosten tragen Mantel (ein Drittel) und Gaedt & Schulig (zusammen zwei Drittel). Ob nach dieser Verhandlung weiterhin schmutzige Tierschau-Wäsche öffentlich vor Gericht gewaschen wird, blieb offen - ebenso die Frage, welche Vorteile sich Ernst Mantel von diesem absurden Prozess versprochen hat. Es ging nicht um Recht oder Unrecht, der Fall erinnert an Rosenkriegstreiberei. MAUERSEGLER Als Flaneur im Gerichtsviertel, Urbanstraße Ein Polizeiwagen fährt durch die geöffneten Stahltore, als wir den Gerichtshof betreten. Gutes Timing, denke ich, jetzt liefern sie uns einen Delinquenten. Falsch. Der Polizeibus bringt das Mittagessen. Keine Ahnung, was er geladen hat. In der Kantine für die freien Mitarbeiter des Landgerichts gibt es heute Gnocchi in Tomaten-Rucola-Sauce aus dem Hause Feinkost Böhm. Ein gutes Gericht. Die Hofmauern sind mit Nato-Stacheldraht gesichert. Das war nicht immer so. Mitte der Neunziger ist ein akrobatisch geschulter Knacki vom Asphalt auf einen Polizeibus gesprungen, über die Mauer gesegelt und in der Freiheit gelandet, ohne sich einen Knochen zu brechen. Danach wurde aufgerüstet. Stuttgarter Gerichtsgebäude, Urbanstraße. Zwei Juristen begleiten uns. Die Herren reden offen, wenn Sie wissen, was ich meine. Und weil man mir gesagt hat, ich solle ein Justizgebäude nie ohne Anwalt betreten, falls ich es als freier Mann verlassen wolle, begleitet mich ein Strafverteidiger, Spezialist für harte Jungs. Unser Scout. In Stuttgart, sagt er, arbeite traditionell eine mutige Justiz. Hier habe man oft genug Mumm gezeigt, wenn es gegen die Mächtigen gegangen sei, etwa gegen die Banken. Lange her. Weiß der Kuckuck oder irgendeiner der Mauersegler, die im Gerichtsviertel legal herumfliegen, was mich hierher gelockt hat. Man geht an den üppigen Pflanzenkästen der Urbanstraße entlang, rechter Hand die pralle Architektur der Allianz-Gebäude, links die Ästhetik der Stadtbücherei. Was für eine attraktive Meile bei gutem Wetter. Und dann steht man vor diesem steinernen Racheengel, einem Außerirdischen, der auf seiner Säule die linke Hand zum Gruße hebt. Justizia, Gott sei uns gnädig. Unsere Tour durch die Gemächer der Gerechten und Verdammten beginnt in der Vorführabteilung. Dort lernt man, was es heißt, einen Menschen vorzuführen. Der schmale Flur mit den stählernen Zellentüren. Hier landen Angeklagte aus dem Knast, bevor sie in den Gerichtssaal geführt werden. Am Boden festgeschraubte Holzstühle, ein Minitisch und die „Schamecke“. Diese merkwürdige, gekachelte Nische mit einem Loch im Boden heißt offiziell so. Die Schamecke ist eine Art Stehklo, etwas für Akrobaten. „Es lebe hoch das deutsche Recht / Wem's widerfährt / dem geht es schlecht...“ In sauberen Großbuchstaben hat einer diesen Reim an die Wand seiner Vorführzelle gekritzelt und ein Kollege aus der Graffiti-Abteilung in Shakespearschem Geist hinzugefügt: „Gehen oder sitzen – das ist die Frage.“ Im Landgericht an der Urbanstraße landet, wer Richter oder Verteidiger ist oder Aussicht auf Knast hat. Im Saal 1 wird gerade ein versuchter Totschlag verhandelt. Wir werfen einen Blick rein. Kaum Neugierige im Saal. Live profitiert die Justiz nicht vom Quotenboom der Gerichtsshows im Fernsehen. Das real gescheiterte Leben ist oft zu banal. Der Öffentlichkeitsraum des Landgerichts erinnert an ein Treibhaus. Die vielen Pflanzen sind vertrocknet, das Geld für den Gärtner fehlt. Es fehlt überhaupt viel Geld zum Renovieren. Hartnäckig hält sich das Gerücht, im Gerichtskeller stehe noch eine Guillotine. Ich frage nach dem Fahrstuhl zum Schafott. Vor vielen Jahren, sagt einer unserer Begleiter, habe dort tatsächlich eine Todesmaschine gestanden, ein Relikt des Nazi-Terrors. Heute werde sie im Kriminalmuseum gelagert. An der Mauer des Landgerichts hat man 1994, nach endlosen Diskussionen, eine Inschrift angebracht: „Den Opfern der Justiz im Nationalsozialismus zum Gedenken. Hunderte wurden hier im Innenhof hingerichtet. Den Lebenden zur Mahnung.“ Man braucht sehr gute Scouts, um dieses Mahnmal zu entdecken; es wurde wissentlich versteckt. Wir nehmen den Fahrstuhl hoch zur Gerichtsbibliothek, dem Denkerraum der Juristen. Hier werden Paragrafen geritten. Was für ein Blick mitten aus der Stadt auf diese Stadt. Man kann den Fernsehturm sehen, den Hauptbahnhof, die Oper, weiter hinten die Reklameleuchten des Kinos Gloria auf dem Marquardt-Bau. Zurück in der Freiheit der Urbanstraße. Vorbei am früheren US-Konsulat, dem heutigen Sitz der Anwaltskanzlei Thümmel, Schütze & Partner. Bei den Bauarbeiten vor dem Konsulat wurde 1998 ein unschuldiger Passant hinterrücks von einem Fahnenmast der Amerikaner erschlagen. Das war Schicksal. Pech. Nicht justiziabel. REKLAME: Flaneursalon-Termin: Mittwoch, 18. März 2009, 20 Uhr. Restaurant-Theater Friedenau, Rotenbergstraße 127, Stuttgart-Ost. Mit Stefan Hiss, Dacia Bridges, Michael Gaedt (Ex Die Kleine Tierschau, Ex Die Große Tierschau). Karten: 07 11 / 2 62 69 24. Immer noch suche ich einen Ost-Agenten für die Propaganda! Kolumnen in den Stuttgarter Nachrichten: www.stuttgarter-nachrichten.de/joebauer „Kontakt“ |
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